Persien 2006
Mittwoch, 23. August

Es hieß zeitig aufstehen. Es stand allerhand auf dem Plan. Almut sorgte dafür, daß wir nicht bis in den Nachmittag hineinschliefen. Ganz so zeitig schafften wir es trotz Verzichts auf das Frühstück nicht ganz wie geplant, da Michl und ich professionelle Treckler sind. Wir kamen erst um viertel vor neun los. Almut hätte schon seit acht Uhr vor der deutschen Botschaft sein sollen und Michl und ich sollten um neun bei der persischen sein. Wenigstens verfuhren wir uns nicht auch noch auf dem Weg dorthin. All die Botschaften waren nicht weit voneinander. Vor der deutschen Botschaft herrschte naturgemäß großer Andang. Sah so aus, als wollten die restlichen Türken auch noch nach Deutschland. Ich frage mich immer noch warum. Das Wetter ist immer beschissen, egal, um welche Jahreszeit. Im Winter, Herbst und Frühjahr ist es naß-kalt, im Sommer ist es heiß-feucht wie an der Karibik, nur fehlt der Strand. Das alles natürlich nur, wenn es nicht eh in Strömen schifft. Der Großteil der einheimischen Bevölkerung besteht aus kleinbürgerlichen Spießern, Denunzianten und Alkoholikern, oftmals alles in einer Person, und für das Atmen muß man in absehbarer Zeit auch einen Antrag stellen, in doppelter Ausführung mit zwei Lichtbildern, die der DIN-Norm sowieso entsprechen müssen, versteht sich von selbst. Wer auch immer dieses Staatsgebilde in die Mitte Europas geschissen hat, muß den größten Teil seines Lebens an irgendeiner schweren psychischen Erkrankung gelitten haben. Mir persönlich reicht es, wenn ich ein paar Wochen in Deutschland war. Dann muß ich wieder raus, hier drängen die Leute alle dort hinein, wie Lemminge auf den Abgrund zu. Denen geht's hier wohl zu gut. Weiß gar nicht, was sie an der Gaggerl-Republik alle finden. Es gibt so viele andere und vor allem schöne Länder. Die Türkei selbst ist eines davon. Daß aber vor der französischen Botschaft auch ein solcher Andrang herrschte, wunderte mich etwas.
Der Andrang vor der deutschen Botschaft.

Um viertel nach Neun warfen wir Almut bei der Botschaft ab und fuhren gleich weiter zum Parkhaus, in dem wir auch Tags zuvor geparkt hatten. Diesmal stellte ich mich ins zweite Untergeschoß in der Hoffnung, daß es da noch kühler wäre, als im ersten. Das stimmte auch, allerdings auch schwüler, denn dort wurden Autos gewaschen. Aber temperaturmäßig war es schon in Ordnung. Ich stieg aus, verstaute alles so, daß es nicht gleich auf den ersten Blick auffält, daß auch Wertsachen im Auto waren. Im Parkhaus waren irgendwo Lautsprecher installiert, aus denen eine bekannte Melodie säuselte. Ich summte mit, denn ich kannte sie und das wunderte mich ein wenig. "Verdammt, das Lied kenn ich doch..." Ich hörte auf den Text. Eindeutig türkisch. Die Melodie eindeutig deutsch. Nach einer Weile, kam der Text auf Deutsch wieder ins Gedächtnis: "Muß i denn, muß i denn, zum Städtele hinaus... Ich glaub's nicht. Was kommt als Nächstes?" Fand ich irgendwie schräg. Aber witzig.

Wir latschten wieder in umgekehrter Richtung zurück, nahmen auf halbem Wege ein Taxi zur Botschaft, bei der wir gegen zehn Uhr eintrafen, also eine Stunde später als geplant. Der Warteraum war recht klein, nur ein paar Bänke, zwei Teetischchen, einem Schreibpult ohne Stifte, ein Schalter und rechts davon ein riesiger Spiegel, durch den man von dem dahinterliegenden Raum aus in das Wartezimmer sehen konnte. Das bemerkte ich deswegen, weil jemand die Tür zur dahinterliegenden Dunkelkammer offengelassen hatte und man den Schein durch den Spiegel hindurch sah.
Der Mitarbeiter fragte uns gleich, ob wir auch Visaanträge bräuchten. Wir bekamen vier Stück. Zwei für jeden, und machten uns ans Ausfüllen. Ich hatte sinnvollerweise mein Schreibzeug im Auto gelassen. Wie bescheuert. Nun rannte ich alle Anwesenden ab und fragte nach einem Stift. Im Auto lagen bestimmt zwei Duzend davon. Als ich schließlich jemanden Fand, der mir einen Stift gab, füllte ich die Formulare aus. Dabei mußte man ein wenig aufpassen, was man da hineinschrieb, damit das Geschriebene auch hinterher mit der aufzutischenden Geschichte bei einer eventuellen Fragestunde übereinstimmt.

In drei Pukten unterschieden sich die Formulare der persischen Botschaft in Deutschland und in der Türkei. In Deutschland wollen sie noch wissen, mit wem man einreist, in der Türkei, mit wieviel Geld und für wie lange. Das war besser so, denn nun kamen wir umhin, denen zu erklären, daß Almut zwar mit uns mitfuhr, aber eigentlich mit anderer Absicht, und sie bereits ein Visum hatte. Ich vergewisserte mich, daß die Anträge übereinstimmten und abgabereif waren. Mir fehlten nun die Paßbilder. Die lagen nicht im Auto, sondern natürlich in Augsburg. Nun mußte ich los, und zusehen, daß ich hier welche bekam. Völlig überflüssige Aktion, wenn man nur einmal mitdenken würde. Ich zog los, Michl blieb bei der Botschaft. Ich mußte mich durchfragen. In der Nähe war eine Shopping-Mall. Dort mußte es was geben.

Das Innere der Mall, die von außen rech unscheinbar, etwas zurückgesetzt von der Straße steht.

Eine halbe Stunde latschte ich in der Mall spazieren, die sehr an den leipziger Bahnhof erinnerte, fragte mich auch dort durch, allerdings erfolglos. Wütend über meine eigene Blödheit stapfte ich zur Botschaft zurück. "Der hat mich schon mehrmals gefragt, ob ich den Antrag nicht abgeben will", empfing mich Michl. "Und warum hast Du es nicht gemacht? Shit. Ein Photoladen am anderen, aber glaubst, einer davon macht Bilder?" Ich fragte den Typen von der Botschaft, dem ich auch gleichzeitig Michls Antrag reichte. Er sagte, ich solle die Straße hinunter und dann rechts. Ich war natürlich vorhin links gegangen. Ich zog wieder los und fragte mich wieder durch, bis ich endlich ein kleines, unterirdisches und nicht-klimatisiertes Photostudio fand. Hier herrschte Beschäftigungsarmut, also gab es keine langen Wartezeiten. Man setzte mich auf einen Hocker, machte ein Bild, dann wurde das auf den Rechner geladen und der Hintergrund mit Photoshop wegretouchiert.

Um halb zwölf stand ich mit den Bildern wieder am Schalter in der Botschaft und gab meinen Antrag ab. "Das kann gar nicht hinhauen", dachte ich mir noch, und schon setzte auch die Fragestunde ein. Welche Visumsart wir denn nun wollten, Transit oder Tourist? Umschalten auf Blöd-Modus. "Ja", fing ich an, "das kömmt drauf an. Ich weiß ja nicht, wie das ist, eigentlich will ich weiter nach Pakistan und zwanzig Tage sind genug. Was habe ich denn für Möglichkeiten?" Er schlug vor, daß wir das Touristenvisum nehmen. Das kostet auch nur 50 €. Touristenvisum. Kein Wort von irgendeiner Referenznummer. Mit dem Tourivisum brauchten wir natürlich nicht nach Pakistan. "Wie lange dauert das, bis wir das Visum bekommen?" "Einen Tag." Gut. Nur nicht nachfragen und den Typen auf die Idee bringen, selbst nachzufragen. An der Grenze kann man sich immer drauf berufen, daß man das Visum von der Botschaft bekommen hätte und ein Irrtum somit ausgeschlossen sei.
Ich zog los zur Bank, um den Betrag einzuzahlen. Das hatte Michl bereits erledigt. Die Bank war nicht weit. Ich latschte hinunter und wartete vor der Klimaanlage, bis meine Nummer aufgerufen wurde. Als ich vor dem Schalter stand und in meiner rechten Tasche nach dem Geldbeutel greifen wollte, entfuhr mir ein leises "Fuck!". Den Geldbeutel hatte ich natürlich im Auto gelassen, weil die Hose, die ich hier anhatte nur eine Beintasche besaß. Und in der waren die Pässe. Almuts Paß befand sich auch darin. "Verdammt!" Ich schüttelte den Kopf, ob soviel Blödheit, entschuldigte mich und ging wieder zurück zur Botschaft. "Hat alles geklappt?" "Ja, ein alter Hut hat geklappt. Mister Superhirn hat natürlich den Geldbeutel im Auto gelassen, tu mal 'n Fuffi her, kriegst hernach wieder." Ich nahm den Fuffziger, ging wieder zur Bank und zahlte den Betrag ein. Der Botschaftsmitarbeiter empfing mich mit der Bemerkung, daß das Touristenvisum bis zu 10 Tage dauern kann. Er braucht eine Referenznummer aus Teheran, und das dauert. Er entschuldigte sich für diesen Irrtum. Verdammt. Er hat's doch gemerkt. Oder sein Vorgesetzter. Also auf Transitvisum umsatteln, das, wie er bemerkte, nur einen Tag braucht. Was das denn kostet, wollte ich wissen. "Auch 50 Euro", gab er zur Antwort. "Na, dann ist ja alles wunderbar. Stellen Sie uns einfach ein Transitvisum aus. Wir brauchen aber dann Zweifacheinreise." "Dann kostet es 60 Euro." Na, meinetwegen. Zehn Euro mehr, dafür immerhin 20 Tage. Also fehlten noch 20 Euro. Wir hatten nur 100er und 50er. Ich schickte Michl mit einem Fünfziger zur Bank, den anderen gab ich dem Botschaftstypen. Er meinte nämlich, er könnte vielleicht wechseln. Das nur, um den Vorgang zu beschleunigen, denn bald war Mittagspause.beides klappte. Wir sollten die Visa am späten Nachmittag abholen. Wenn das nur stimmte. Wahrscheinlich würde man uns dann erzählen, wir sollten sie am nächsten Morgen abholen. Darauf stellte ich mich jedenfalls schon mal ein. Dann gibt's hinterher keine Enttäuschung. Wir zogen los zum Treffpunkt. Das war das Café Tarçin, in dem wir auch schon Tags zuvor gesessen waren. Nach ein paar Schritten fiel Michl auf, daß er seinen Rucksack vergessen hatte. Wir klingelten wieder, aber keiner öffnete. Mittagspause. "Alter, mach das mal auf einer amerikanischen oder israelischen Botschaft. Dann ist hier aber ganz schnell die halbe Stadt evakuiert." Achzig Euro befanden sich darin, neben ein paar Reiseführern und sonstigen Papieren. "Mal sehen, was passiert. Wahrscheinlich nichts. Schlimmstenfalls ist die Kohle weg. Auf jeden Fall kein Bombenalarm..."

Ein Poster, das im Wartesaal genau gegenüber des Eingangs in der iranischen Botschaft hing:
          "Das ist es, was die USA und Israel fortwährend tun!
          UN, NATO, die Europäische Union,
          die Organisation der Islamischen Konferenz
          und die Arabische Liga schauen zu"

Als wir im Café ankamen, saß Almut bereits da. "Und? Wie war's?", fing ich an, aber hieß sie gleich mal wieder ins Leere brabbeln, da ich mein Zeug nun aus dem Auto holen mußte. Geld, Stift usw. Als ich wieder zurückwar, legte sie los. Der Gang zur Botschaft war eher überflüssig gewesen. Das könnte zwei bis drei Wochen dauern, bis die interne Post von Berlin nach Ankara käme, ganz abgesehen davon, daß es nicht zulässig sei. Warum wir nicht UPS oder FedEx probiert hätten? "Aaaah. Ich Idiot. Daran hätte ich denken müssen. Nicht nur, weil ich von Natur aus Beamten meide, wo es nur geht, sondern auch, weil ich mir selbst meine Papiere von L.A. mit FedEx zuschicken ließ. Das hat ein paar Tage gedauert, dann war alles da." Ein Patzer nach dem anderen. Und lauter Schmarrn, der nicht sein muß, der vermieden werden kann, wenn man nur ein kleines bißchen ernsthaft bei der Sache ist. Das erschien mir jetzt, wo es verbockt war, so logisch wie nur etwas.
Und wo der Paß nun abgeblieben war, weiß keiner. Die Botschaft nicht, und wir auch nicht. Vielleicht haben sie ihn an den Absender zurückgehen lassen, vielleicht liegt er in Berlin, vielleicht ist er unterwegs nach Ankara. In jedem Falle kann er für dieses Unternehmen abgeschrieben werden. Lieber fliegen wir nach New York und warten auf das Eintreffen der Titanic, als hier in Ankara auf diesen Paß. Das wäre allein schon deshalb sinnvoller, weil es besser in das Gesamtbild dieses Kasperletheaters passen würde, das wir hier ungeniert veranstalteten. Alle Menschen sind schlau. Die einen vorher, die anderen nachher. Warum über die Botschaft? Wir waren auch bereit, die Kosten zu übernehmen, bei denen wir davon ausgehen mußten, daß sie höher waren als die, die für einen Versand über UPS oder FedEx fällig gewesen wären. Almut hatte nach dem Botschaftsgang ihrem Bruder Joe die Anweisung erteilt, daß er den Paß, sobald er ihn hätte, nach Erzurum zur deutschen Vertretung schicken soll. Diesmal per FedEx. Mittlerweile aber, eine Stunde später hatte sich der Plan wieder geändert. Wir würden unsere Visa spätestens morgen haben und würden dann in Erzurum eventuell wieder warten müssen, immer mit der Ungewißheit darüber, ob der Paß überhaupt bis dahin aus der Versenkung aufgetaucht sein würde. Keine Experimente mehr. Die Zeit lief uns davon. Almut sollte ihn sich, wenn überhaupt, dann nach Teheran nachschicken lassen, nachher mit uns zur iranischen Botschaft gehen und auch ein Transitvisum beantragen. Sie ging sie wieder ins Internet-Café nebenan und verständigte Joe darüber.

Stadtverkehr AnkaraWir gingen früher als geplant zur Botschaft, da wir nun noch ein Visum brauchten. Diesmal ohne Taxi. Wir wären eh nur im Stau gestanden. Schon auf dem Weg dorthin hielten wir bei der Bank, um das Geld im Voraus einzubezahlen. Ich stellte mich vor die Klima und ließ mich abkühlen, während die anderen warteten. Als sie dranwaren, trat ich in Aktion. Klappte alles wunderbar schnell und wir gingen weiter, gleich die nächste Straße hoch zur Botschaft. Paßphotos hatte Almut dabei. Das konnte wir uns also sparen. Wir traten ein und ich fragte nach zwei weiteren Anträgen. "Almut, warum hast Du kein Kopftuch auf?" "Ich hab's vergessen." "Wo ist es denn?" "In der Tasche." "Zieh's an." "Das kommt jetzt, glaub' ich, blöd..." " Dann laß es. Ist doch eh schon scheißegal..." Ich half ihr bei einigen Punkten des Formulars, um sie den unseren anzupassen. Er rief mich, um mir unsere Pässe auszuhändigen. Wir hatten unsere Visa. Eine innere Stimme sagte mir, daß es jetzt für Michl und mich Zeit war, das Weite zu suchen. Die Stimme meldet sich jedesmal zu Wort, wenn etwas wider Erwarten glattgelaufen war. Ich höre sie häufig an Grenzübergängen oder bei ähnlichen Situationen, und normalerweise höre ich auf sie. Hier nicht. Ich gab ihm noch den Einzahlungsbeleg von der Bank. Der Mitarbeiter wollte wissen, ob sie mit uns die ganze Zeit über reisen würde. Aber er wollte es von ihr persönlich hören. Ich ging zum Pult, an dem Almut ihre Formulare gerade ausfüllte. "Tauschen wir. Ich fülle weiter aus und Du machst da vorne mal Dein Colloquium." "Was soll ich ihm erzählen?" "Die Wahrheit, die ganze saublöde Situation. Und mach ganz große blaue Augen dabei..." Das war nach meinem dafürhalten taktisch klug, denn ansonsten hätte er sich vielleicht gefragt, warum wir nicht gleich in der Früh zu dritt erschienen wären.
Nach einer viertel Stunde kam er wieder mit Almuts Paß an den Schalter. Almut ging hin, rief mich nach kurzer Zeit. Ich trat hinzu. Was wollte er denn von mir? Wir waren doch fertig. "Kann ich nochmal schnell Eure Pässe sehen?", fragte er ganz unschuldig. Da war die innere Stimme wieder. Diesmal sagte sie: "Ich hab's gesagt, ich hab's gesagt..." Zähneknirschend gab ich ihm die Pässe. Was hätte ich machen sollen? Er hatte Almuts Paß als Geisel. "Also. Dafür, daß wir die Visa so schnell ausgestellt haben, müssen wir noch eine Gebühr von 35 Euro aufschlagen." Verdammt nochmal. Jetzt half nur noch verhandeln. "35 Euro? Wieso das jetzt plötzlich." Almut beschwichtigte. "Ja, komm, die 35 Euro sind immer noch besser als noch eine Nacht im Hotel." "Soll ich jetzt wieder zur Bank latschen? Die meinen schon langsam, wir sind bescheuert." Ich könne es gleich hier zahlen. "Der Paß hat doch nicht mehr Zeit in Anspruch genommen, als die anderen, warum ist der teurer?" "Ist er nicht. Ich rede von 35 Euro pro Paß" "WAS? Das sind ja 105 Euro. Wieso das denn? Dafür kann ich hier eine Woche im Hotel wohnen." Zu Almut und Michl meinte ich dann auf Deutsch: "Da zahl ich lieber noch mal eine Übernachtung und hol die Pässe morgen ab. So kommen wir allerdings einen Tag früher los. Wir können uns gleich ins Auto setzen und an die Grenze donnern. "Come on, man, you are killing me! Machen wir 50 Euro für alle Pässe. Wir brauchen auch keine Quittung." Wer hatte denn was von Quittung gesagt? Er ließ sich nicht runterhandeln. Nicht mal auf 100. Almut hatte noch einen Fünfer. Wir nahmen die Pässe und gingen. Als das eiserne Gitter hinter uns zugefallen war, brach mein heiliger Zorn aus. "Dieser halbseidene, schmierige Zigeuner. So ein geschleckter, unseriöser Kameltreiber, hinterlistige Drecksexistenz. Hundertfünf Euro. Dafür hätten wir im Iran die ganzen Dieselvorräte aufkaufen können." Mein Diskurs wurde nur dadurch kurz unterbrochen, daß ich über eine Unebenheit am Gehsteig stolperte und zwei älteren Herren fuchtelnd entgegenflog, die sich am Gehsteig unterhielten, benahe auf der Nase landete, mich aber doch noch irgendwie einfing. "Scheiß Teil, verpiß Dich aus meinem Weg, Du Dreck!", zischte ich den Randstein an und weiter ging das Ge- und Verfluche bis wir das Auto erreicht hatten. Als der Klang des Diesels an die Ohren drang, beruhigte ich mich wieder und wir fuhren los (17:00 / 270.625).

Zunächst vorbei an leicht gepanzerten Fahrzeeugen der türkischen Polizei. Wozu die die hier wohl brauchen?

Almut wollte sich noch die Julian-Säule anschauen, bevor wir in Richtung Osten aufbrachen. Wir verfuhren uns noch ein bißchen, woran natürlich der Typ von der Botschaft schuld war, niemand anders, und trafen erst eine Stunde nach dem Losfahren an der Säule ein. Es herrschte ein reges Treiben an dem Platz. Fußgänger, Autos, Lieferwägen, Kleinbusse, alles wuselte durcheinander. Erstaunlich, daß ich mitten in diesem Hexenkessel einen Parkplatz fand. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, so gingen Almut und Michl los, während ich beim Auto blieb. Allerdings nicht am Auto, sondern nur in Sichtweite, damit ich sehen konnte, wenn jemand ihm zu nahe kam, gleichzeitig aber nicht selbst angesprochen wurde. Erstens befürchtete ich, daß man mich auffordern würde, weiterzufahren, zweitens war mir die Gegend nicht geheuer. Es waren zuviele Kinder da. Und zwar nicht solche, die mit den Eltern auf Familienausflug waren, sondern angehende Kriminelle, die elternlos und völlig abgerissen überall über den Platz verstreut herumlungerten und mehr am Geschehen teilnahmen, als es mir lieb war.

Das kenne ich noch aus Brasilien, die sind am unberechenbarsten. Mit allerlei Verbrechern kann man meistens verhandeln, aber bei zehn-, zwölfjährigen ist nichts zu wollen. Die legen einen um, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein. Das würde hier freilich nicht vorkommen, das hier ist keine Favela in Rio. Aber ich hatte eben kein gutes Gefühl und auf das habe ich mich stets verlassen, bin immer gut damit gefahren. Auch als ich damals mit Zehra an einer Tankstelle tanken wollte, an der das Kinder-Eltern-Verhältnis ebenfalls sehr unproportional war, bat sie mich darum, weiterzufahren. Ich beobachtete die Kinder, hielt gleichzeitig Ausschau nach Almut und Michl. Als sie nach einer halben Stunde ankamen, gab ich Anweisung, ohne unnötigen Aufenthalt von wegen "Ich brauch noch was aus dem Kofferraum" einzusteigen, damit wir loskonnten. Ich stieg als erstes ein, startete den Motor, ließ die anderen hinein und fuhr los, einfach dem Verkehr folgend, bis mich Michl wieder auf den richtigen Weg brachte, nämlich auf den zum Atatürk-Denkmal.

Die Julian-Säule mit Storchennest oben drauf.

Alle Zufahrten zum Denkmal waren mittlerweile geschlossen. Da hatte der Reiseführer mal nicht gelogen mit den Uhrzeiten. Es war auch nichts zu machen. Aber wir würden ja die gleiche Strecke zurückfahren, vielleicht konnte man ja dann rein. Diesmal, aber, mußten wir weiter. Bald hatte uns Michl auf die Straße nach Kirikali gelotst. Ungestüm gin es weiter in Richtung Osten.

19:55 Uhr, km 270.753: Kurzer Halt an einer großen Tankstelle in der Pampa, um Diesel- und Getränkevorräte zu ergänzen. 20:15 Uhr: Weiter in Richtung Sorgun über Yozgat. Jetzt hieß es wieder Kilometerfressen. Entgegen dem ursprünglichen Plan hatten wir nun bereits alle Hüden in der Türkei genommen. Ich hatte mit einem längeren Aufenthalt in Erzurum gerechnet. Den konnten wir uns nun sparen. Papiertechnisch waren wir in der Türkei fertig. Die nächste Hürde wäre die iranische Grenze. Und die würde Zeit, Geld und Nerven kosten, daher war es gut, daß wir bis dahin eine gewisse Frist hatten, in der wir uns entspannen konnten. Eine kleine Kampfpause, sozusagen. Die würden wir auch brauchen. Dem hinzu kam, daß das Kurdengebiet nicht auf unserer Route lag, was bedeutete, daß wir mit deutlich weniger Polizeikontrollen zu rechnen haben würden. Einfach nur fahren, ganz ohne Sorgen die Landschaft genießen - zumindest für ein paar Tage, das ist zwischendrin notwendig.

Östlich von AnkaraUm zwanzig vor zwölf hielt ich an einer Raststätte an, denn ich hatte Hunger. Michl nicht, also blieb er beim Auto und Almut ging mit mir in das Restaurant. Busse karrten noch um diese Zeit Touristen an, die auch alle Hunger hatten. Es gab nichts Gescheites, aber der Hunger ist bekanntlich der beste Koch. Ich bestellte Hühnchen mit Reis, das typische afrikanische Gericht. Dazu gab es einen Korb mit Weißbrot, den ich mit Almut teilte. Irgendwie habe ich immer das Gefühl, daß man in diesen Ländern kulinarisch nicht sehr verwöhnt wird. In den wenigsten, eigentlich. Ein für interessanter Sachverhalt ergab sich bei einer Zusammenstellung nach meiner persönlichen Rangliste, die mir während des Essens so durch den Kopf ging. Die Länder mit dem besten Essen waren Italien, Argentinien, Deutschland und Brasilien. Die größten Kackländer in der Gesamtwertung waren Nicaragua, Costa Rica, Deutschland und Brasilien. Da haben wir eine Schitmenge, die mich darauf schließen läßt, daß in beiden letztgenannten Ländern, die Menschen leben, um zu essen, statt umgekehrt. Nur so eine Theorie.

Wir fuhren bald weiter, um noch ein paar Kilometerchen zu schaffen, bevor ich müde wurde. Für Unterhaltung sorgte Michl mal wieder, allerdings ungewollt. Wir fuhren nun "aus der Karte". Die Türkeikarte hatte zwei Seiten. Vorne der westliche, hinten der östliche Teil. Nun war es an der Zeit, die andere Kartenseite herzunehmen. Zu diesem Zweck mußte man sie umdrehen und genau entgegengesetzt falten. Daraus wurde nun ein zehnminütiger Staatsakt, der mit viel Lärm verbunden war. Als ich mich vom Lachkrampf erholt hatte, half ich ihm mit einer Hand - die andere sollte am Lenkrad bleiben - die Karte in das gewünschte Faltmuster zu formen. "Alter, Du bist nicht ernsthaft zu blöd, eine Karte umzufalten, oder? Wieviel Risse hat sie jetzt?" "Ah, Herrgott, wenn die so eine saublöde Faltart wählen..." Soll sich auf die Iran-Karte freuen. Die ist wasserdicht und zerreißfest - allerdings nur bei normalem Gebrauch. Da steckte also auch noch Potential drin.

Es herrschte kaum mehr Verkehr auf dieser Straße. Hinter Ankara hörte die Zivilisation auf. Selbst das Handy zeigte nur ab und zu noch den Standort an, bis es ganz damit aufhörte. Auch war der Handy-Empfang nicht mehr stets vorhanden. Langsam kamen wir in das richtige Anatolien. Das merkte man auch daran, daß die Autos immer abgeschuttelter aussahen, Frauen nun verstärkt in Form von Kopftüchern unterwegs waren, Männer immer konservativer gekleidet waren, die Straßen gewiß nicht besser wurden. Der Osten der Türkei ist immer noch Hinterland. Kann man sich vielleicht Ankara noch in der EU vorstellen, so fällt es bereits hier, wenige Kilometer östlich davon schwer, an Europa zu denken, egal, was man sich ansieht. Das hier ist bereits tiefstes Asien. Auch ist das System so ausgerichtet, daß man sich je nach Leistung immer weiter westwärts verlagert. Ich weiß zwar nicht, ob das nicht ein Gerücht ist, aber vieles spricht dafür, wenn man sich das hier so ansieht.

Getreu dem Grundsatz, daß man in solchen Gegenden, in denen mit verringertem Verkehrsaufkommen zu rechnen ist, am besten Tagsüber fährt, begann ich, Nachtplätze zu suchen. Man kommt Tagsüber schneller voran, weil man weiter sieht, dadurch schneller fahren kann und nicht gegen unbeleuchtete Eselskärren donnert. Außerdem ist die Landschaft sehr ansprechend und die verpaßt man ja sonst. Hundert zurückgelegte Kilometer erfordern hier, meiner Erfahrung nach, bis zu etwa 20% mehr Zeit, als wenn man sie Tagsüber fährt. Man verschenkt damit Zeit. Hinzu kommt noch, daß man dann tagsüber von Ermüdungserscheinung geplagt wird, wenn man am Tag davor noch bis drei Uhr nachts durchkariolt. Das setzt wieder die Schnittgeschwindigkeit herab. Die Sonne weckt einen nämlich spätestens um neun. Und selbst wenn nicht, verpennt man kostbares Tageslicht und hat am nächsten Abend wieder das gleiche Problem. Dann kommt irgendwann der Tag, an dem man nach dreihundert Kilometern das Nachtlager aufschlägt, um einmal richtig auszuschlafen und sich dessen bewußt wird, daß man bei korrekter Vorgehensweise auch locker achthundert schaffen hätte können.
23:50 Uhr, km 271.010: Zwischen Akdagmadeni und Jildizeli (kann man das mit einem normalgeformten Mund und genetisch unbehandeltem Kehlkopf überhaupt aussprechen?) fand ich schließlich einen Nachtplatz, indem ich einen von der Hauptstraße abgehenden Feldweg eine Weile befuhr und an einer seiner zahlreichen Kurven ins Gelände auswich. Im Scheinwerferlicht hopste ab und zu eine Springmaus querfeldein. Rundhorchen ergab nichts. Keine Köter oder sonstige Viecher, die den Nachtschlaf hätten stören können.

Das aufgeschlagene Nachtlager. Scheinbar eine Schafsweide.

Der Boden war relativ eben und man konnte gut darauf schlafen. Etwas kühl war es zwar, da wir uns in den Bergen befanden, aber das Hätte nur durch mehrstündige Fahrerei geändert werden können. Jede Wette, daß es in Deutschland jetzt gerade noch kälter war. Sommer wieder mal ausgefallen. Würde mich nicht wundern. Die schönen Sommer, die ich in Deutschland zwischen 1990 und 2000 erlebt hatte, kann man locker an einer Hand abzählen, selbst wenn an dieser ein paar Finger fehlen sollten.


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