Persien 2006
Dienstag, 19. September

Um sieben weckte mich Almut bereits auf. "Warum bist Du eigentlich immer so unchristlich unterwegs?", fragte ich Almut. Mich da mitten in der Nach zu wecken. Wir sind doch im Urlaub, dachte ich. "Wer hat denn gestern großspurig gesagt, daß wir uns um acht bei der Polizei treffen sollen?", bekam ich zur Antwort. "Die Nächte werden auch immer kürzer. Und Internet haben sie hier auch keines. Wenn wir nachher zurück sind, werd ich mich hier mal wirklich bei der Tournierleitung beschweren, das ist ja kein Zustand. Die Leviten werd ich denen lesen, ob's ihnen gefällt oder nicht." So oder so ähnlich motzte ich vor mich hin, als ich meinen Kram zusammenpackte. "Immer fluchen", trällerte Almut, "kaum steht er auf, muß er meckern, motzen, fluchen, schümpfen." Almut schien sichtlich beruhigt, daß wir die hundert Stunden bereits voll hatten. "Vielleicht schaffen wir die 120. Mal seh'n."

Ich machte mich fertig. Um viertel nach sieben sammelten wir uns am Auto. Diesmal hatte ich alles, inklusive Block. "Es kann losgehen, meine Damen..." Mit dem Saïpa fuhren wir hinunter zum Haupttor. Als ich dachte, wir wären da sprang ich hinunter, bezahlte und wunderte mich ein wenig, warum ich soviel Wechselgeld bekam. Als ich dann das Tor sah, wurde es mir klar. Wir waren zu früh ausgestiegen. "Warum sagt von Euch auch keiner was? Kruzefix!", bellte ich die anderen beiden an. Almut grinste nur: "Du machst das immer mit einer Selbstverständlichkeit. Da denkt jeder, Du wirst schon Deine Gründe haben, da wird ein Sinn dahinter stecken." Was soll ich dazu sagen? "Möchte bloß wissen, wie Du überhaupt auf die Idee kommst, daß irgendwas einen Sinn hat, was ich je im Leben getan hab. Du hast doch Deine Promotion auf'm Volksfest geschossen..." Die beiden waren schon wieder zehn Meter hinter mir. Die eine, weil sie nur einen Meter zwanzig mißt, der andere, weil er ständig über seinen eigenen Kopf stolpert. "Vorwärts, jetzt. Nicht einschlafen... Wenn wir schon extra wegen Euch laufen müssen." "Immer sind die anderen Schuld. Nie man selber", hörte ich wieder Almuts singsang. "Natürlich nicht. Das wär ja noch schöner. Du bist doch schon an allem schuld. Du bist doch diejenige, die immer die Schuld bei sich selbst sucht. Ich geb sie Dir gern ab. Vielleicht sollten wir sogar heiraten, wir ergänzen uns spitzenmäßig..."

Es geht sich bequemer, wenn man dabei motzen kann. Der Weg hinunter zum Haupttor führte an endlosen LKW-Kolonnen vorbei. Die Endkontrolle am Tor dauert scheinbar sehr lange. Die Fahrer, meistens Türken, saßen alle neben ihren Autos und frühstückten. Auch wir wurden eingeladen, doch leider war die Zeit etwas knapp.

Ein Taxler, der soviel Werbung für sich selbst machte, wurde engagiert, nachdem wir über den Preis verhandelt hatten. "Einsteigen!", gab ich durch. Ich selbst stieg vorne ein, die anderen hinten. Dann fuhr der Taxler los. Er fuhr sehr langsam. Ich sah mir das eine Weile an, dann sah ich auf die Uhr, sah ihn wieder an. "Ich hab das schon schneller geseh'n!", sagte ich ihm deutlich ins Ohr. Er aber sah mich nur an, als ob er kein Wort verstanden hatte. Ich klatschte, zeigte nach vorn und sagte: "Gas, Alter! Wrrrrrrm!" Geht nicht. "Maschin kollt", sagte er nur und zeigte auf die Instrumente. Sollte wohl heissen 'Auto kalt'. Wie blöd kann man sich denn noch anstellen? Dann laß die Karre laufen, dann wird sie nicht kalt, Mann. Und das bei Spritpreisen von 8¢ pro Liter Benzin. Hab doch nicht den ganzen Tag Zeit. Soll ich aussteigen und schieben?
Langsam nahm er Fahrt auf. Zwanzig Minuten brauchten wir bis Maku. Wir kamen genau pünktlich um acht Uhr an. Dariusch war noch nicht da.

Maku in den frühen Morgenstunden.

Wir warteten also vor der Station bis er kam. Das dauerte nicht lange, um zehn nach war er da. Ist nicht so, wie bei den Arabern. "Wo ist der Agent?", fragt er. "Welcher Agent? Wir wissen von nichts", sagte ich. "Der wollte auch kommen." Aber scheinbar ging es auch ohne. Dariusch hatte den Brief dabei vom Zollkommandanten. Er hatte ihn behalten. Nun wollten wir mit dem Brief zum Polizeichef, um unsere Stempel zu bekommen. Wir gingen wieder vor dieses kleine Büro neben der Zelle. Darinnen saß ein Bulle, und wenn man ihm einmal ins Gesicht gesehen hatte, wußte man, es mußte schief gehen. Den Typen kann ich mir gut in deutscher Polizeiuniform vorstellen. Er diskutierte mit Dariusch. Es ging hin und her und sah gar nicht gut aus. Dann fragte er nach den Pässen. Ich gab sie ihm. Kurz darauf bekam ich sie zurück - ohne Stempel. "Fuck!", es sieht nicht gut aus. Dariusch diskutierte weiter mit ihm. Es brachte nichts. Der Bulle brüllte nur und Dariusch hielt sich zurück. Was macht der eigentlich bei der Polizei? Das ist doch Ware für die Kadaververwertung - falls die sowas annehmen.

Ich ging zu ihm hin und fragte ihn nach dem Brief. Dariusch übersetzt. Der Bulle brüllt zurück. Das beeindruckt mich überhaupt nicht. Ich widerholte nur in ganz normalem Tonfall, daß ich gerne den Brief haben möchte. Dariusch bat um Verständnis dafür, daß er so tun müsse, als stünde er auf Seiten des Bullen. "Euch könnnen sie nur schwer was tun, aber mir daür umso leichter", sagte er. "Klar, kein Problem. Dann hol ich mir eben einen neuen Brief." Was ich denn mit dem Brief überhaupt will. "Beweisen, daß wir nicht dran schuld sind, daß wir nicht rechtzeitig aus dem Land waren." Der Brief sei an die Polizei adressiert und damit basta. "Wie gesagt, dann hol ich mir eben einen neuen... Dieses Stück Müll will doch eh nur Geld. Frag ihn wieviel", sagte ich zu Dariusch. "Nein, nicht bezahlen! Ihr habt nichts falsch gemacht. Ihr kommt hier raus, ohne etwas zu zahlen, und wenn wir es jeden Tag probieren, bis ein anderer da sitzt, der Euch einfach die Strempel gibt." Er hat recht. Hier war jedenfalls nichts zu machen. Wir gingen wieder. OK. Jetzt sind wir soweit, wie wir vor drei Tagen waren. Jetzt haben wir nicht mal einen Brief. Den sollten wir uns auf alle Fälle wiederbeschaffen. Wenn er einmal einen Ausgestellt hat, dann macht er es sicher auch ein zweites Mal. Und irgendwo wird sich schon einer finden, der was zu sagen hat und der uns zuhört. Alles nur eine Frage der Zeit. Doch nun sah man doch deutlich die Hoffnung schwinden. Die Fronten verhärten sich, unsere Möglichkeiten werden immer weniger. Spätestens wenn sie erschöpft sind gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Zahlen oder bleiben. "Wir zahlen nicht!", sagte ich. Ich stieß auf keinerlei Widersprüche, auch dann nicht, als Dariusch uns erzählte, daß der Bulle ihm das Beispiel eines Polen nannte. Der hätte dreißig Tage überzogen und hätte am Ende auch bezahlt. "Dann warten wir eben, bis der Betrag so astronomisch wird, daß selbst Bill Gates ihn nicht mehr zahlen kann", war meine logische Schlußfolgerung. Es wäre ja alles nicht so wild, wenn mich die Deppen wenigstens mit dem Auto fahren ließen. Dann würde ich einfach hierbleiben, aber ohne Auto?

Wenn Almut nicht rechtzeitig zum Semesterbeginn da ist, laufen die Herrn Professoren in Leipzig Amok. Wozu das führen kann, wissen wir ja. Es gibt sogar Gerüchte, nach denen die Attentate am 11. September nicht von islamischen Fundamentalisten ausgetragen wurden, sondern von Orientalisten, damit sie sich für die Zukunft ihre Jobs sichern. Jede Hoffnung ist besser als keine. "Wir könnten noch zum Rathaus gehen und sehen, ob wir den Gouverneur von Maku sprechen können", schlug Dariusch vor. Wir konnten eh nichts tun, also zogen wir los zum Rathaus. Dariusch fragte sich durch zum Gouverneur und wir kamen in ein kleines Sprechzimmer. In dem saß natürlich nicht der Gouverneur selbst, sondern nur zwei Beamte. Dariusch meinte, daß wir wahrscheinlich frühestens morgen einen Termin bekommen würden. Er reichte uns ein Anmeldeformular. "Schreibt da drauf, warum ihr ihn sprechen wollt, und unterschreibt. Ich übersetze es dann und reiche es ein." Ich schrieb einen kurzen Text: Aufgrund von Schwierigkeiten mit dem Zoll bekamen wir Probleme mit der Ausreise. Er übersetzte das und gab es dem älteren der beiden Beamten. Der ging weg. Und wieder ein Tag rum.

Es dauerte eine Weile, aber als er wieder kam bat er uns, ihm zu folgen. Bald saßen wir in einem Wartezimmer mit zwei Türen. Die eine war die, durch die wir gekommen waren, die andere war eine schwere, prunkvoll gearbeitete und mit Leder überzogene Tür. Das war das Zimmer vom Gouverneur. "Heu! Doch nicht erst morgen?", sagte ich. Wir wurden hineingebeten. Es war punkt 10:00 Uhr. Hinter der Tür tat sich ein Saal auf, an dessen Ende, leicht erhöht, der größte Schreibtisch stand, den ich je gesehen hatte. Der wog bestimmt fünfhundert Kilo, ohne seine Marmorplatte. Dahinter saß, man muß fast sagen thonte, der Gouverneur, vor zwei iranischen Staatsfahnen und den Bildern von Khomeini und Khomenei. Ich nahm bei Betreten des Saales die Mütze ab und hielt sie unter dem linken Arm. Vor dem Schreibtisch standen sich zwei Sofas gegenüber. Der Gouverneur bat uns, Platz zu nehmen. Er sprach langsam und sehr ruhig. Ich setzte mich auf den linken Sofa, die anderen drei auf den rechten. Dariusch trug unser Anliegen vor. Der Gouverneur wollte wissen, wie es uns im Iran gefallen hat, was wir alles angeschaut hätten. Am meisten schien ihn zu beeindrucken, daß Almut hier war, um persisch zu lernen.

Nach der kurzen Unterhaltung griff er kurz zum Telephon. Sekunden später kam ein etwas kleinerer Mann in den Raum, schätzungsweise Anfang fünfzig. Er schloß die Tür hinter sich und nahm etwa zehn Meter vom Schreibtisch Haltung an. Der Gouverneur gab ihm ganz leise, ganz deutlich und sehr eindringlich irgendwelche Anweisungen. Jedes mal, wenn er seine rechte Hand nach unten bewegte, machte sein Untertan einen kleinen Knicks und schien nach jedem Mal kleiner zu werden. Dann verließ er den Raum. Er entschuldigte sich bei uns, sagte zu uns, daß wir gleich zu ihm hätten kommen sollen, und daß sein Mann sich darum kümmern werde, daß wir möglichst schnell weiterfahren können. Wir entschuldigten uns unsererseits, ihn damit belästigt zu haben, verabschiedeten und bedankten uns und verließen den Raum in einer Weise, wie man eine Kirche oder eine sonstige religiöse Stätte verläßt.

Draußen wurden wir schon von dem Mann erwartet. Er stellte sich bei uns mit Ibrahimi vor. Er würde sich um unser Problem kümmern. Wir wurden gebeten, in seinem Büro Platz zu nehmen. Auf dem Weg trafen wir einen Typen, den Dariusch kannte. Der war beim Fernsehen. Dariusch unterhielt sich kurz mit ihm. "Ob das wohl die nächste Stufe ist? Hoffentlich nicht..."
Wir saßen da eine Weile, während Ibrahimi nur telephonierte. Zwischendurch unterhielt er sich mit Dariusch, der uns ab und zu was fragte. Einmal fragte er nach dem Namen der Gesellschaft, später dann, wieviel Geld wir ihnen gegeben hätten. Almut verstand nur wenig von dem, was gesprochen wurde, nur ab und zu fetzen. "Der telephoniert mit der Hauptstadt", sagte sie einmal. Aber wir alle verstanden genug um eines zu wissen: Jetzt wird dreckige Wäsche gewaschen, wie es Almut ausdrückte. Ich bevorzugte die militärische Ausdrucksweise und sagte: Die Schlacht hat begonnen. Wir konnten selbst nichts tun, doch mit Ibrahimi hatten wir nun einen starken Verbündeten, denn sicher war, daß er auf keinen Fall dem Gouverneur melden wollte, daß er bei der Ausführung des Auftrags gescheitert war. Und der würde es spätestens erfahren, wenn er einen Anruf bekommt vom Gouverneur der Provinz. Doch wie stark war die andere Seite? Das wußten wir nicht, aber wir würden es bald herausfinden. Zunächst konnten wir nur abwarten. Und das zerrte an den Nerven. Allerdings nur an meinen. Almut lernte ihre Vokabeln und Michl saß im Eck und war in seiner Traumwelt beschäftigt.

10:33 Uhr: Der Bulle von vorhin betritt den Raum. Er meidet Blickkontakt, macht einen Knicks und wird aufgefordert, sich zu setzen. Er schreit nicht mehr. Ganz leise ist er und redet mit Ibrahimi. Er reicht Ibrahimi irgendwann zwei Zettel, woraufhin Ibrahimi den Raum verläßt. Der Bulle sitzt im Raum herum und weicht allen Blicken aus. Der macht anscheinend Schwierigkeiten. Ich starre ihn an. So eine Lust, einem Bullen mit bloßen Händen die Kehle aufzureissen hatte ich zuletzt, als ich in Augsburg vor Gericht saß und mir anhören mußte, wie diese Drecksexistenz von einem Bullenschwein der Richterin die Verkehrskontrolle schilderte, die sich ganz anders zugetragen hatte und bei der er so besoffen war, daß er kaum noch lallen konnte. Damals zitterte ich am ganzen Leib, aber nicht vor Angst, sondern vor Haß und Wut.

Er unterhielt sich dann mit Dariusch, wobei sich der Ton wieder änderte. Der fragte nach, ob wir einen Beleg hätten. "Beleg? Beleg für was? Wir haben doch nichts bezahlt", gab ich zur Antwort, leicht verwirrt. "Ihr habt doch Geld für die Gesellschaft bezahlt, damit sie das Problem mit dem Visum beseitigt", sagte er. "Achso. Ja, wir haben einen Beleg bekommen, aber den hat der Agent wieder genommen und beim Zoll abgegeben." Dariusch übersetzte. Das sei nämlich illgal, das dürfen die gar nicht anbieten. Nun ärgerte es mich schon wieder, daß ich es nicht auf Tonband hatte.
Ibrahimi war inzwischen wieder im Raum. Er telephoniert und reicht dann den Hörer an den Bullen weiter. Der redet und redet, ich verstand nur 'transit'. Dann legte er auf und redete wieder mit Ibrahimi. Es sah seltsam aus. So einfach würde es wohl doch nicht werden. Die andere Seite fuhr nun auch ihre Geschütze auf, wie es schien.

11:30 Uhr: Der Bulle machte keine Anstalten, uns die Stempel geben zu wollen, denn er verabschiedete sich bei Ibrahimi und Dariusch und ging. Während der Zeit, als er mit Ibrahimi geredet hatte, betraten zwei weitere Leute den Raum. Beide älteren Jahrgangs. Mit war das alles zuviel. Verstehen konnte ich eh nichts, machen schon gar nicht.

11:48 Uhr: "Ich muß jetzt eine rauchen", sagte ich und ging hinaus. Nur wo? Ich sah einen Balkon, machte die Türe auf, ging hinaus und steckte mir eine Cigarette an. Währenddessen fiel mir ein, daß ich mal wieder ein Bild machen könnte. Während ich die Kamera aus dem Holster fingerte erschien unter mir, vor dem Tor, etwa 50 m entfernt, ein Posten. Er gibt mir ein Zeichen, vom Balkon zu verschwinden. Ich verschwand sofort. Stand kein Schild, daß das verboten war - und wenn, hätte ich es vielleicht lesen, aber eh nicht verstehen können.
Ich ging nach unten. Im Treppenhaus redeten Dariusch und Ibrahimi miteinander. Ich ging hinunter in den Hof und rauchte meine angefangene Zagarette zu Ende. Sicher hätte es niemanden gesört, wenn ich sie im Gebäude gesaucht hätte. Hier im Iran darf überall geraucht werden. Sogar an der Grenze rauchen die Polizisten während sie die Pässe abarbeiten und schnippen die Kippen dann einfach auf dem Schalterfenster in die Halle auf den Boden. Ist normal. Anschließend ging ich wieder hinauf ins Zimmer von Ibrahimi. Es tat sich nicht viel. Dariusch saß da und lauschte Ibraahimi, wie er ein Telphonat nach dem anderen führte. Almut brachte mir zum x-ten Mal das arabische Alphabet bei. Jedes Mal, wenn ich halbwegs flüssig lesen kann, verlassen wir das Land und dann gerät alles wieder in Vergessenheit.

12:30 Uhr: Wir unterschreiben eine Erklärung, daß wir der Firma Mahan Tir am 15./ IX/06 um 18:15 Uhr 170,98 US$ gegeben hätten, damit sie das Visums-Problem beseitigt. Dank meiner Aufzeichnungen konnte ich sogar das Datum, die Uhrzeit und die Beträge in den einzelnen Währungen angeben. Leider gab es keine Tonaufzeichnung. Das muß geändert werden. Der mp3-Player ist für sowas wie geshaffen: Einschalten, in die Brusttasche stecken und man kann stundenlang mitschneiden. Aber die Chance war verpaßt.
Anschließend warteten wir lange auf irgendwas. Keiner wußte worauf, aber keiner fragte mehr nach.

14:00 Uhr: Aufbruchsstimmung. Dariusch, Almut, Michl und ich gingen los. Dariusch ging voran. "Was los? Was geht?", fragte ich Dariusch. "Mittagspause. Wir gehen essen." Auch recht. Verhungern wollen wir ja auch nicht. Wir fuhren mit dem Taxi in ein sehr schickes Restaurant. "Das geht auf den Sekretär", offenbarte Dariusch, "er läßt sich entschuldigen, aber er kann nicht mitkommen." Wir gingen zur Rezeption und Dariusch redete kurz mit der Dame. Man hatte uns schon angemeldet. Wir nahmen am Tisch Platz und bestellten. Für mich natürlich Kabob, für Michl auch und für Almut Salat - aber nur, weil sie kein trockenes Brot hatten, vermute ich.
Gerade war das Essen gekommen, da klingelte das Handy von Dariusch. Er ging ran. Die Stimme auf der anderen Seite klang sehr aufgeregt. Ich saß links neben ihm und ich konnte zwar kein Wort verstehen, aber hören konnte ich es leut und deutlich. Dariusch sagte nicht viel und legte bald wieder auf. "Wer war das?", fragte ich. "Das war der Agen von Mahan Tir", sagte er und aß weiter. Hä? Wieso ruft der bei ihm an? "Der meinte, wir sehen uns morgen vor Gericht." Mir blieb das Essen im Hals stecken. "Court?", fragte ich nach. "Gericht, ja. Wo der Richter ist", sagte er.
Als die Teller abgeräumt waren, klingelte es erneut. Wieder sagte dariusch nicht viel. Nur, da er mehrmals vor dem Auflegen "Khodahafez" sagte, was soviel wie "Danke" heißt, fragte ich, ob es der Sekretär gewesen ist. "Ja. Wir sollen uns an der Polizeistation treffen. Er kommt mit dem Colonel (dem Oberst). Wir fuhren los zur Polizeistation.

15:15 Uhr: Wir waren kaum ein paar Minuten an unserer Mauer gestanden, da kam ein Saïpa vorgefahren und der Colonel stieg aus. Er fragte uns nach unseren Pässe und ich gab sie ihm. Dieser widerliche Bulle war auch da. Er hielt sich in seinem Büro auf. Wir blieben an der Mauer stehen.

15:30 Uhr: Alle drei Agenten von Mahan Tir kommen an. Egal, wie das hier ausgeht: Die werden sich in Zukunft zehnmal überlegen, ob sie Touris die Kohle abzocken und darauf vertrauen, daß die schon zahlen, weil sie eh Kohle haben. Und einen Teilsieg hatten wir schon mal errungen, allein durch den Ärger, den die mit uns in den letzten Tagen hatten. Und jetzt gibt's zwar auch gleich wieder eine auf den Deckel, aber sie müssen zusehen, daß sie Schlimmeres verhindern. Die 170 Dollar reichten nun schon bei weitem nicht mehr, denn heute war der fünfte Tag ab Ablauf des Visums und somit waren wir bei ca. 540 US$ angekommen. Im Büro wurde laut diskutiert.
Dariusch kam ab und zu und erstattete Bericht. Keiner wollte schuld sein. Es wird wild telephoniert, der Bulle beruft sich auf Recht und Gesetz, erklärte Dariusch grinsend. "Ist witzig, nä?", sagte er, "in welchen Situationen solchen Leuten einfällt, daß es Recht und Gesetz überhaupt gibt. Nämlich immer dann, wenn es für sie von Vorteil ist. Das sind sie das Gesetz." Frag mich keiner, wie es um Recht und Gesetz bestellt ist für die, die wenige Meter neben uns in der Zelle eingesperrt saßen. Dariusch ging wieder.
"Doch nicht so einfach Stempel hier, Stempel da und raus", stellte ich resigniert fest. Almut war etwas verwirrt wegen der undurchschaubaren Hierarchieverhältnisse. Sind das mehrere nebeneinander, oder was soll das alles werden? Da sagt der Zollchef, er ist Schuld, die Polizei interessiert es nicht, der Gouverneur sagt 'fahren lassen', doch die Polizei stellt sich wieder quer. Und es ist dieser eine Bulle. Sein Vorgesetzter, der Colonel, gibt ihm einen Befehl, aber er macht, was er will und beruft sich auf Recht und Gesetz. Damit droht er wahrscheinlich dem Vorgesetzten, der ja auch irgendwie daran gebunden ist.
Meine Theorie war die, daß nun verschiedene Mafia-Kartelle aufeinanderstießen. Wir selbst waren zwar die Ursache dafür, aber wir gerieten immer mehr und mehr in den Hintergrund. Nur unsere Anwesenheit sorgte dafür, daß weitergestritten wurde.
Da war einmal die Gesellschaft, dann der Zoll, die Polizei und seit heute mischte auch noch ein Vertreter der Regierung mit. Ein durcheinander. Keiner schien mehr zu melden zu haben, als die anderen. Und es zog sich über eine Stunde hin. Zwei der Agenten kamen raus und stellten sich zu uns in den Schatten neben die Mauer. Dariusch kam kurz darauf. Er sagte, daß die Lösung sich langsam abzeichnet. Wir müßten nur noch ein Papier unterzeichnen. "Wer von denen hat Almuts Paß zurückgehalten?", fragte er. Ich zeigte auf denjenigen: "Der da. Dabei wollte ich nur raus und wieder rein, und die Papiere am nächsten Tag erledigen." Dariusch übersetzte ihm, was ich gesagt hatte und sie redeten dann eine Weile. Der Zweite schaltete sich ein. Dariusch sah wieder zu uns und sagte: "Er sagt, ihr hättet schon viel früher an der Grenze sein müssen. Aber mit denen lohnt es sich nicht zu reden. Der andere hier hat mir gerade eben gesagt, ich soll was anderes übersetzen."

16:30 Uhr: Der Sekretär kommt heraus und erklärt uns etwas. Dariusch übersetzt und erklärt: Wir bekommen jetzt jeder einen Zettel und den sollen wir unterschreiben. Es muß eine Situation geschaffen werden, bei der keiner Schuld ist. "Keiner will schuld sein", betonte er, "Wie ich vorhin sagte." Daraufhin kam der Bulle mit einem Stuhl und einem Stoß Papieren an die Mauer. Nun brüllte er wieder. Wenn Almut etwas nicht leiden kann, dann, wenn sie jemand anbrüllt. Er hielt mir einen Zettel hin. "Almut, was steht da?", fragte ich. Sie las vor. "Wegen Problemen mit dem Zoll konnten wir das Land nicht rechtzeitig verlassen." Der Bulle hielt mir ein Stempelkissen hin und drängte darauf, daß ich meinen Fingerabdruck da hinsetze. "Im Iran unterschreibt man, wenn man dazu aufgefordert wird!", schrie er, woraufhin mich Almut am Arm packte und von ihm wegzog. Er wurde noch lauter. Sie zischte ihn an. "Wenn dieser Idiot glaubt, der kann machen, was er will, dann hat er sich getäuscht", sie schob einen Agenten zur Seite und marschierte in Richtung Ausgang. Ich hinterher. "Almut! Bleib stehen, das bringt doch nichts!", nun war ich der, der schrie. "Bleib da. Das paßt schon. Wir können hinterher immer sagen, man hätte uns unter Druck gesetzt. Was ja auch stimmt." Wir waren wieder zurück und der Bulle erntete einen Haß-Blick von Almut. Er sah wieder auf sein Papier und hielt es mir hin. "Wollt ihr nun raus oder nicht?", fragte er. Deutlich leiser. Ich machte einen grünen Zeigeffingerabdruck auf jeden Zettel und achtete dabei besonders darauf, daß ich vor dem Abnehmen des Fingers über das Papier glitt. "Father Name", sagte er. "Bernhard", aber da er das eh nicht schreiben kann, hielt ich ihm meinen Paß hin, den ich komischerweise in den Händen hielt, ohne zu wissen, wer ihn mir gegeben hatte. Ich hatte ihn doch dem Colonel gegeben. Egal. "Father Name", sagte er wieder und sah kurz Almut an, um sofort wieder auf sein Papier zu starren. "Ulli!", sagte sie. "Uli?", fragte er. "Ulli!", schrie sie schon fast. "Hier muß man sich ab und zu aufführen, sonst nehmen die einen nicht ernst. Ich wäre schon nicht weggelaufen", erklärte sie mir das Manöver von vorhin. "Ah, OK..." Der Fettsack erklärte auch noch, daß er mit der Stelle telephoniert hätte, die Almut das Visum verlängert hätte. Die meinten, sie hätten vergessen, ihr die zwei überzogenen Tage zu berechnen. Er solle das nun tun. "Oooops!", aber dagegen sagte niemand was. Wir hätten das Geld auch da gehabt, doch es mußte offiziell so aussehen, als ob Dariusch es uns geliehen hätte.
Sie unterschrieb mit Stift und Michl auch. Warum die Trottel von der Gesellschaft frech wurden wußte ich nicht. Aber ein gutes Zeichen war es nicht. Falls es was zu bedeuten hat, werden wir es in Kürze wissen.

Wir steigen zu sechst in den uralten Peugeot des Sekretärs. Ich mußte vorne bei dieser fetten Drecksau von einem Bullen sitzen. Ekelhaft. Ich hatte ja keine Ahnung, daß er da auch mitfährt, ansonsten hätte ich Michl neben ihn gesetzt. Der hätte dann vor sich hingerotzt und genießt und gespieben, daß der Bulle davongelaufen wäre. Ich mußte an eine Polizeikontrolle denken im Raum Oberhausen. Wir waren gerade auf dem Rückweg von Holland und die Nichtsnutze hatten uns von der Autobahn gezogen. Sie suchten lange, fanden aber nichts, weil einfach nichts da war. Als sie Michl aufforderten, seine Hosentaschen auszuleeren und kurz darauf monatealte, gebrauchte Taschentücher, auf denen schon Pilze wuchsen, auf die Haube ihres Autos lagen, und Michls Vorrat an Unrat nicht enden wollte, machte die Fresse des einen Bullen seiner Uniformjacke konkurrenz, was die Farbe anging. Günther und ich lachten uns schief. "Komm, Michl, da geht noch was!"

Wir kamen am Justizgebäude an. "Michl, wo ist eigentlich Dein Paß?", fragte ich. "Hasch den ned Du?", fragte er in einem Tonfall, den ich habe, wenn mich einer mitten aus dem Tiefschlaf holt. "Doch. Ich frag nur zum Spaß", sagte ich, "Daeios! Wir haben hier eine Situation." Er erklärte die Situation. Ibrahimi springt mit der fetten Sau ins Auto und fährt los. Ein paar Minuten später ist er wieder da mit dem Paß auf der Ablage. Wir stehen da und warten. Ich war um die Ecke beim schiffen, und als ich wieder zum Auto komme, ist der fette Bulle gerade am Einsteigen. "Scheisse! Fuck! Schon wieder zu langsam!", dachte ich und stieg ein. "Darf ich fragen, wo wir hinfahren?", wollte ich wissen. Das Gericht hatte schon zu, wir fahren jetzt zum Richter nach Hause. Der Sekretär fuhr wie der Henker von Theran. Bei jedem Speed-Bump schlug ich mir den Schädel am Türfalz an. Er fuhr in die Einbahnstraßen, hupte alles aus dem Weg. Dem tut keiner was, ist schon klar. Aber wenn man schon dieses Privileg hat, daß man fahren darf, wie man will, dann ist es unsinnig so zu fahren, daß man sich dabei selbst umbringt. Der Bulle entschuldigte sich bei uns. Das sagte Dariusch.

Wir hielten vor dem Haus des Richters. Es war ein relativ junger Kerl, der einen gebildeten Eindruck machte und sauber angezogen war. Er begrüßte erst Ibrahimi, dann uns und Dariusch. Er nahm den Stapel Papiere, den ihm Ibrahimi gereicht hatte, sah ihn sich an und verfaßte ein weiteres Schreiben. Währenddessen redete der Bulle ständig auf ihn ein. Er hielt kurz inne, sah den Bullen genervt an, sagte etwas. Der Bulle war still und der Richter schrieb weiter. "Was hat der gesagt?", flüsterte ich zu Dariusch. "Der hat den fetten gefragt: 'Bist Du hier der Richter oder ich?". Bald darauf übergab der Richter das Schreiben an Ibrahimi und wir ginngen zu einem Gebäude. Es war scheinbar sowas wie ein Friedengericht.

Die Aufschrift an dem Gebäude. Keiner konnte mir noch genau erklären, was das eigentlich für ein Gebäude war. Es hatte jedenfalls irgendwas mit justiz zu tun, wie man an der Waage sehen kann, die über dem Eingang aufgemalt ist.

17:00 Uhr: Wir saßen in einem kleinen Raum, in dem zwei Schreiber hinter winzigen Schreibtischen saßen, die sich unter der Last des Papieres, das auf ihnen lag, zu biegen schienen. Anwesend: Der Richter, der Sekretär, Agent I, Agent II, die fette Sau, Dariusch, Michl, Almut und ich. Und wir warteten.
Der Richter blieb nicht lange. Er verabschiedete sich bei allen, außer bei dem Bullen und bei den Agenten. "Was macht der eigentlich noch hier?", fragte ich Dariusch. "Der quatscht hier nur dagegen und macht Schwierigkeiten", sagte er und deutete auf den Bullen. Der hatte aus irgendeinem Grunde Michls Paß. Ich hatte ihn nicht gleich von der Ablage genommen. Fehler. Dariusch macht Ibrahimi darauf aufmerksam, der dem Bullen den Paß abnimmt. Almut checkte gar nichts mehr. "Der Richter hat entschieden und der Bulle hat aber keinen Bock auf die Entscheidung, oder wie? Was ist denn das? Wie funktioniert sowas?" Verstehen wollen ist müßig. Jeder hat ein Ziel, das er erreichen will. Wir wollen raus, der Bulle will Geld, und die anderen wollen uns loswerden. Mit anderen Worten: Der Bulle hat alle gegen sich, denn unwillkürlich ziehen wir mit den anderen an einem Strang. Er gibt und gibt nicht auf.

17:15 Uhr: Wir stehen wieder vor dem Gebäude. Ein Taxi steht bereits da. "Auf was warten wir?", fragte ich. "Auf Ibrahimi", sagte irgendwer. Wir standen davor und redeten. "Und was passiert jetzt?", fragte ich weiter. "Jetzt fahrt ihr zur Grenze. Morgen gibt es hier wohl noch ein Nachspiel", sagte Dariusch. "Ah, OK. Dann treffen wir uns morgen wieder hier? Oder bei der Polizei?", fragte ich. "Wir", sagte Dariusch, "nur wenn alles schiefläuft. Ihr reist jetzt aus. Wir bleiben in Kontakt." Der Bulle kam aus dem Gebäude und entschuldigte sich wieder mal. Dann ging er. "Endlich sind wir diese Pestbeule los. Wurde ja auch mal Zeit. Der soll sich bei den Arschgesichtern auf dem Präsidium in Augsburg melden, da suchen sie solchen genetischen Sondermüll.

17:30 Uhr: Ibrahimi kam heraus. Wir wollten uns verabschieden. "Noch nicht", sagte er aber. Wir drei und einer der Agenten fuhren mit dem Taxi zur Grenze, Ibrahimi fuhr mit dem eigenen Auto. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, daß wir ein paar weitere Tage und Nächte hier verbringen würden. Noch sah es auch gar nicht so aus, als würden wir ausreisen. Ich glaubte auch nicht daran. Das hatte es bisher jeden Tag geheißen. Und so wohl war mir bei dem Gedanken auch gar nicht. Es war doch eine kuschelige Stellung, die wir da hatten. Wenn wir heute rauskommen, können wir irgendwo in der Nähe von Doyubagazit in den Dreck flacken. Lieber erst morgen. Mach doch mal ein Bild von dem Schmierfink da vorne, wenn's geht, sagte ich zu Almut.

Das Resultat.

Am unteren Tor angekommen, forderte uns der Agent auf, auszusteigen und deutete auf das Auto von Ibrahimi. Der stoppte, fuhr zurück und schrie irgendwas zu ihm herüber. Wieso hätten wir jetzt umsteigen sollen? Dann hätte er uns auch gleich mitnehmen können, denn er war alleine gefahren. Besonders schlau schien keiner der Agenten zu sein.

17:58 Uhr: Wir kamen einige Minuten nach Ibrahimi an der Grenze an. Wir liefen im Pulk vorbei an den Zöllnern und hinter zur Polizei. Ibrahimi war schon da und eine Menge Polizisten waren in dem kleinen Zimmer (15b) versammelt. Und wieder wurde diskutiert. War das das letzte verzweifelte Aufbäumen der Meute? Oder rüsteten sie zum Gegenschlag? Wir konnten es nicht sagen, wir wußten es nicht. Der Polizist, der Michl und mir den Stempel in den Paß gegeben hatte, fing nun an ärger zu machen. Warum müssen alle Fettsäcke aus der Gegend heute querulieren. Es sammelten sich immer mehr Leute im Polizeizimmerchen. Wir gingen mit dem Sekretär mit ins Zimmer, ich gab ihm unsere Pässe. Der alte Bulle telephoniert von Pontius bis Pilatus. Wir schlichen uns wieder aus dem Zimmer. Der kleine fette kam nach einer Weile aus dem Zimmer heraus, blieb bei uns stehen, sah mich an und schüttelte den Kopf. Das war's. Die sind am Ende. Ich nickte. "Nicht mit mir, Alter. Eure Spielchen könnt ihr mit den Deppen machen, die Busseweise ankommen und den Geldbeutel locker sitzen haben..." Er ging weiter. Ich bekam sowas wie ein Grinsen im Gesicht, das allerdings sogleich wieder erstarrte, als ich den großen Fettsack sah, der in Richtung Zimmer marschierte. "Schweine. Verdammte Schweine", sagte ich. "Was los?" "Zweite Schraubengeräusche in 45 Grad. Kommen schnell näher!" "Was laberst Du?" "Die fette Sau ist wieder da." "Scheisse..." Nein. Nicht der Arsch schon wieder. Er ging in das Zimmer. Mir seiner Ankunft wurde es auch lauter. Ich setzte mich auf die Bank in der Wartehalle und stierte in die Glotze, die gerade das Abendgebet übertrug. "Allah hu akbar! La Illaha il Allah! Hallah Badkapp..." Da muß man ja blöd werden. Michl setzte sich eine reihe vor mich. Kurz darauf stenden die Leute auf und setzten sich woanders hin. Kein Wunder. Der zitterte mit dem Bein so, daß die ganze Sitzreihe wackelte. Natürlich nimmt er das nicht wahr, daß es alle anderen stört. Das ist die 'verschobene Wahrnehmung', unter der er leidet. Störend ist nur, was ihn stört. Wenn es andere stört, dann sind die eben kleinlich.

18:20 Uhr: Die zwei schmierigsten Agenten kommen ins Büro. Es ist noch nicht soweit. Die Schlacht ist noch nicht gewonnen. Die können sich noch stundenlang halten, gerade jetzt, wo sie Verstärkung bekommen haben. Meine Siegesgewißheit wurde von Minute zu Minute verhaltener. Ich wurde nervös. Ich lief hin und her, lehnte an der Wand. "Was gibt jetzt noch groß zu diskutieren?", fragte ich, als ob Almut das wüßte. "Der fette ist auch hier", sagte sie. "Ja. Hab ich vorhin gesehen. Gerade als ich dachte, es wäre soweit." Jetzt saßen die schon seit über einer halben Stunde da drin und reden und reden und telephonieren. Je länger sich das hinzieht, desto unwahrscheinlicher ist unsere Entlassung. Und das kleine Büro füllte sich immer weiter. Mittlerweile waren auch Zöllner mit von der Partie.
Eine Fliege nervte mich und die Fliegenpatsche war im Auto. Ich schlug mit dem Heft nach ihr, traf sie nicht, aber dafür macht sich der Kugelschreiber selbständig und trifft die Neonröhre an der Decke. Es tut einen Schlag und es regnet Kugelschreiberteile und sonstige Splitter. Zum Glück hat die Röhre gehalten... Ich sammelte die Einzelteile auf, in der Hoffnung, wieder schreiben zu können. Vergiß es. Abgebrochen. Was dieses lauten Schlag getan hatte, weiß ich nicht. Aber irgendwas war es. Ein Bulle kommt aus dem Zimmer, raucht eine Cigarette, wobei er anzieht wie ein Staubsauger, wirft seine Kippe dann auf den Boden und stürzt sich wieder hinein. Versteh ich nicht. Drinnen rauchen sie doch auch.

18:45 Uhr: Der Sekretär und die fette Sau kommen raus und streiten sich. Es geht hin und her, auch unsere Pässe wandern hin und her. Ich versteh kein Wort. Ich weiß nur, es sieht nicht gut aus. Für einen Moment sah es so aus, als hätte der Fettwanst verloren. Dann lacht er wieder dreckig und macht weiter. Die beiden gehen in Richtung Parkplatz. Kurz darauf kommt der Fette alleine wieder. Hoffentlich ist Ibrahimi nicht gegangen. "Ich brauch jetzt ein Bier!", sagte ich. Da wir sowas nicht hatten, wollte ich einen Saft aus dem Auto holen und eine Kippe rauchen. Doch genau in dem Moment kommt Ibrahimi daher und bringt Cola und Kuchen für uns drei. Wieder warten, die Diskussion im Polizeizimmer wird wohl die ganze Nacht gehen...

19:03 Uhr: Ibrahimi kommt und hält drei weinrote Pässe in der Hand. Er hält sie mir entgegen mit einem erleichterten Gesichtsausdruck. Ich schlage einen davon auf, sehe nach. Es war zufällig mein Paß. Jawohl! Der Stempel war drin. Babak kam plötzlich breit grinsend aus dem Polizeizimmer. Den hatte ich heute noch gar nicht gesehen. Ich bedankte mich bei Ibrahimi, verbeugte mich ein wenig zu tief, denn er zog mich wieder hoch und deutete nach oben, der Decke entgegen, über der wohl Allah thront.
Wir gingen zum Auto, als die anderen eingestiegen waren, brummte der Diesel schon zufrieden. Schnell den Kilometerstand und die Uhrzeit notieren: 279.621 / 19:05 Uhr. Wir fuhren an. Ganz langsam auf das noch geschlossene Tor zu. Ibrahimi und Babak standen auf der Straßen und winkten uns nach, als wir erneut anfuhren. Das türkische Tor (22) war schon offen, bevor das iranische (21) aufging.

Ein kurzes Zittern ging durch das Auto, als wir über die Schienen fuhren. Dann waren wir auf türkischer Seite. Beide Tore blieben weit länger offen als nötig gewesen wäre - zum ersten mal seit Tagen. Von türkischer Seite aus nochmal ein Blick zurück. "Dankeschön", murmelte ich. Das iranische Tor ging zu, bald darauf das türkische. Das Gröbste war nun überstanden, aber noch waren wir nicht eingereist. Einem übereifrigen Beamten könnte Auffallen, daß unsere Fahrzeugpapiere der reinste Witz waren. Wir konnten nur hoffen, daß es gutgehen würde, aber richtig Angst machte uns das nicht. Für diesen Fall kramten wir die Ausrede, die wir seinerzeit in Marokko für die abgelaufene Versicherung parat gehalten hatten: Die Papiere seien weggeflogen und wir hätten nur das hier. Falls sie darauf bestehen, müssen die Papiere von Deutschland aus gefaxt werden. Doch die Türken hatten es nicht eilig, uns abzufertigen. Die machten gerade Wachablösung, wie mir der Torposten erklärte. Das ist der Schichtwechsel, wie er bei Beamten stattfindet. Während die Schichten in einem privaten Betrieb sich überschneiden, klaffen beim Staatlichen lücken. In diesem Fall würde es voraussichtlich eine Stunde dauern, sagte er. Normalerweise würde man sich darüber aufregen und Randalieren, bis einer seine Pause unterbricht und uns abfertigt. Aber wenn man gerade 118 Stunden auf einen Stempel gewartet hat, dann kommt es auf ein paar Stunden wirklich nicht an. Er fragte mich, ob ich Tee trinke. Klar doch. Keine Minute später stenden zwei gläser Tee am Fensterbrett des Torhäuschens. "Warum habt ihr zwei Tage dort warten müssen?", wollte er wissen. "Fünf", berichtigte ich, "Die wollten Geld und wir wollten nicht zahlen." Er nickte. "Und? Habt Ihr bezahlt oder nicht?" "Keinen Cent", sagte ich. Wir schlürften unseren Tee. Ich freute mich, daß ein ganz normaler Grenzer ein paar Brocken Englisch konnte. Das hilft. Nachdem ich meinen Tee ausgetrunken hatte, meinte er, ich solle mal ins Gebäude hinten hineingehen. Vielleicht ist einer da, der schon mal die Immigrationsgeschichten vorwegnimmt.

Ich ging in das Gebäude mit den Pässen, suchte eine Weile, aber man sagte nur, daß um Acht die neue Schicht anfinge. Ich ging also hintenrum wieder zum Auto. Immer wieder kamen welchen von diesen halbseidenen "Helfern" daher und wollten irgendwas. "Paper. Police. Customs. Money change", so oder so ähnlich klang es immer. "Go away", sagte ich immer nur, rauchte und las weiter. Bei besonders aufdringlichen Exemplaren machte ich eine Geste, daß sie sich entfernen sollen. "Mach Du Deine Papiere. Ich mach meine." "I help you" "Ja, Du würdest mir sehr viel helfen, wenn Du Deinen Krach woanders machen würdest..."

Um kurz vor acht ging das Licht im Grenzhäuschen an. Schichtwechsel war also vollzogen. Etwa sieben oder acht Leute waren schon da und drängten sich um das Fenster. Ich ließ die erst fertigmachen und blieb so lange am Auto. "Police. Passport, Stamp!", sagte einer, als ob die Welt unterginge. "Police da vorne. Hier nix police." "You passport police." "Good bye." Als die anderen alle ihren Stempel hatten, ging ich zum Polizisten mit den drei Pässen. Er versuchte, sie einzuscannen, aber das klappte nicht. Daher mußte er alles von Hand eintippen. Bis acht Uhr waren es noch fünf Minuten und ich hatte bereits meinen Einreisestempel. Das geht ja mal richtig flott.
Die, die vor mir bei der Polizei angestanden waren, standen nun vor mir beim Zoll. Ich ging wieder ins Auto. Wieder nervten die "Helfer". Keiner weiß, warum die so heißen. Das einzig Hilfreiche, das sie tun könnten, wäre wegzugehen. Und das tun sie nur selten. Am besten, man sieht sie kurz an, damit sie nicht meinen, man hätte sie überhört, und sieht dann wieder weg. Man konnte zum Beispiel das interessante Schild betrachten, das vor der Tür war, auf dem 'Kafeterya' und 'Dutyy Free' stand.

Ab und zu ging ich hinein und sah nach, wie sich die Schlange verhielt. Bei dieser Gelegenheit sprach mich einer auf Deutsch an, der selber anstand. Er war aus Istanbul, schleifte mich zum Zoll im Zimmer nebenan, dann wieder zurück in die Schlange. Diesmal wollte keiner Gebühren. Wahrscheinlich gelten die vom letzten Mal noch. Einer vom Zoll kam mit, durchsuchte kurz das Auto. "Was ist in den Kanistern?", fragte er. "Die dürften leer sein", sagte ich. Er klopfte dagegen. "Ansonsten kann sein Problem mit Soldaten", sagte er und deutete in Richtung Landesinnere. Um fünf nach halb waren wir fertig und passierten ein Kontrollhäuschen. Er bat um die Papiere. Ich reichte ihm den Brief. Er tippte das Kennzeichen in den Computer, dann öffnete er die Schranke. Ich sah auf die Uhr. "20:35 Uhr genau 120 Stunden. Das dürfte unser neuer Rekord für Landgrenzen sein. Der hält ein paar Jahre, würde ich sagen." Fünf Minuten später wieder eine Kontrolle. Diesmal Militär. "Habt's es dann bald?" Als diese uns durchwinkte, gab ich mal Gas. Um uns herum war plötzlich eine Meute Straßenköter. Ich hielt drauf, allerdings ohne etwas zu treffen. Das hatte ich mir in Südamerika angewöhnt.

"So", sagte ich nach einer Weile feierlich, "jetzt aber." Ich fuhr rechts ran und stoppte, stieg aus, gab der Straße einen Kuß. "Leute, ich darf feststellen: Wir haben die Grenze definitiv hinter uns. Bald sind wir zuhause. That calls for some sort of celebration. Haben wir einen Champagner?", fragte ich, wohl wisssend, daß keiner da war. "Sauerkirsch- und Pfirsichsaft hätte ich zur Auswahl..." "Pfirsich. Musik fehlt hier", stellte ich fest. Es kam nur ein Lied in Frage. Ich kramte die Spindel unter dem Sitz hervor und legte eine CD ein, stellte auf laut und gröhlte aus voller Kehle mit: "Uns kann keiner, uns kann keiner, auf der großen weiten Welt..."

Wer hätte heute in der Früh noch gedacht, daß wir heute weiterfahren können? Noch vor einer Stunde hätte ich fast wetten können, daß es wieder nichts wird. "Wie sieht der Plan aus? Was fangen wir mit der neugewonnenen Freiheit an?", fragte ich in die Runde. "Efes!", antwortete Michl. "Ja, ich würde auch vorschlagen, fahren wir in das Kaff und schauen, ob noch was offen hat", sagte Almut. Wohin auch immer. Mir egal, Hauptsache es wird wieder gefahren.

Wir fuhren über die dunkle Landstraße in die schwarze Nacht hinein auf Dogubayazit oder Doyubagazit. Wie auch immer es heißen mochte. "Aber wenn man überlegt... Eigentlich war es an der Grenze gar nicht so schlecht. Ich hätt's noch ein paar Tage ausgehalten", sagte ich. Immerhin waren wir rundum versorgt, hatten außer DSL alles umsonst, was wir brauchten, einen Schlafplatz, usw. Nun waren wir wieder auf uns allein gestellt und mußten aller Wahrscheinlichkeit nach wieder mit der Schnauze im Dreck pennen. Also, hätten wir die freie Auswahl gehabt, dann wäre ich noch eine Nacht an der Grenze geblieben. Die hatten wir allerdings nicht. Entweder wir mußten bleiben, oder wir mußten raus. Wie im richtigen Leben: Nie darf man, immer muß man...

Doyubagazit sah noch nicht ganz tot aus. Wir fuhren über die Holperstraße hinein, an der wir auf dem Hinweg aus dem Kaff hinausgefahren waren. Die paar Autos, die unterwegs waren, fuhren wie in Zeitlupe und äußerst vorsichtig. Der Fahrer sah von 9 bis 3 Uhr, er starrte nicht einfach nur nach vorn, wie ein paar Kilometer weiter östlich. Auch Almut fiel es auf, wie diszipliniert es hier zuging. Es ist eben immer alles eine Frage des Standpunktes. Als ich 1999 zum ersten mal in die Türkei kam, ist mir der ganze Verkehr wild und chaotisch vorgekommen. Von diesem Gefühl bleibt nicht mehr viel übrig, wenn man ein bißchen im Iran unterwegs war. Dort wird man angefahren, von der Straße gedrängt, alle fünf Meter ein Unfall, tausende von Leichen überall verstreut... Ich mußte an die Schweizer denken - ob das gutgeht?

Gleich an der ersten Kreuzung bogen wir links ab. Da war ein Supermarkt. "Der nützt uns jetzt gerade nur nichts, weil wir kein Geld haben", sagte Almut. Stimmte. Wir hatten ja nur Dollar und Euro. Das ganze türkische Geld hatten wir den Agenten gegeben. Es war gegen neun Uhr, als wir vor der Türkiye Bankasi hielten. Almut sprang hinaus und hob Gelder ab. Dann wieder zurück zum Supermarkt.

Vor dem Supermarkt.

Wir luden die Einkäufe in den Kofferraum und fuhren eine Straßenecke weiter. Michl holte sein Efes. "Jetzt fehlt noch der Schafskopf", stellte Almut fest. Aber leider hatte die Bäckerei, die wir nach langer Suche fanden, schon lange zu. Wir also wieder zurückgefahren und bei der nächsten offenen Bäckerei angehalten. Die hatten zwar keine Schafsköpfe, aber dafür anderes Weißbrot. Gegessen wurde heute sozusagen 'en marche'. Almut belegte das Brot und reichte es vor. Dann stießen die beiden mit dem noch kühlen Bier auf den gelungenen Ausbruch an. "Du auch?", fragte mich Almut. "Ja, aber Saft - bin im Dienst." So feierten wir ein wenig, ich bedankte mich bei der restlichen Besatzung, "daß Ihr nicht wankend geworden seid, daß Ihr mich in der Zeit nicht verlassen habt..." Und so weiter. Beharrlichkeit führt zum Ziel. Allerdings muß man auch sagen, daß wir gewaltiges Glück hatten. Es hätte sich noch Wochen hinziehen können. Fest stand nur: Wir zahlen nichts.

Wir bogen ab in Richtung Süden, auf Van zu, das am gleichnamigen See liegt. Den wollten wir uns anschauen, weil er so schön blau sein soll. Um viertel nach zehn kamen wir in eine Militärkontolle. Die wollten die Pässe sehen, das Gepäck, alles mußten sie anfassen. "Tamam, dankeschän", und wir durften weiter. "Ach, ja, das hab ich vergessen zu sagen: Das war damals schon so hier im Osten. Ständig diese Kontrollen. Das nervt mit der Zeit." Die nächste kam fünfundzwanzig Minuten später, die übernächste eine Viertelstunde später:
22:15 Uhr: Militärkontrolle -279.674 km
22:40 Uhr: Militärkontrolle - 279.712 km
22:55 Uhr: Polizeikontrolle - 279.735 km
Die sollen alle abhauen. Falls die Waffen suchen, die diesen Namen auch verdienen, sind Touristenkofferräume keine wirklich heiße Spur. Die stehen schon fast in Rufweite zueinander und ziehen jeden raus. Und, daß sie seit Jahren hier stehen beweist, daß es wohl nichts bringt. Es fliegen immer noch Sachen in die Luft - wie erst vor ein paar Wochen. Eine Depperlveranstaltung ist das. Den ganzen Verkehr aufhalten für nichts und wieder nichts. Hier läuft es wahrscheinlich so ab, wie überall. Der Offizier, der jetzt natürlich nicht da ist, kommt dann vorbei, um den LKW mit der Konterbande durchzuwinken. Der Staat bezahlt ihm ganz wenig, um die LKW aufzuhalten, die Waffenschmuggler ganz viel, um den LKW durchzuwinken. So ist sichergestellt, daß der LKW auch am Ziel ankommt - und als einziger nicht kontrolliert wird. Die Kontrollen dienen ausschließlich dazu, daß jemand daran Geld verdient. Gäbe es keine Kontrollen, könnte man das Zeug einfach so rankarren. Das wäre für den Endverbraucher dann billiger. Und wenn man Militär und Polizei Kontrollen machen läßt, dann muß der Schmuggler schon mal zwei Offiziere schmieren. Das geht irgendwann ins Geld und auf die Weise soll sich das Geschäft dann nicht mehr lohnen. Ob die Rechnung aufgeht? Ich glaube kaum. Korruption läßt sich nur schwer verbieten.

Als sich eine Weile keine Lichter zeigten am Horizont, begann ich nach Nachtplätzen zu schauen. Wir bevorzugen offene, überschaubare Ebenen, doch da es dunkel war, mußten wir nehmen, was da war. Wir konnten es uns nicht aussuchen.
Um kurz nach Elf fuhr ich von der Straße, die nach Van führte und mehr oder weniger nord-süd verlief, links nach Osten ab, an einer mir passend erscheinenden Stelle. Ich hatte sie für einen Feldweg gehalten, was sie auch war, allerdings ein ziemlich kurzer. Das Gelände wurde holperig und es schien sich um eine Wiese zu handeln. Ich stellte den Motor ab und horchte. Keine Geräusche - nur der Wind.
Es war 23:15 Uhr und ziemlich kalt. Nichts wie rein in den Schlafsack und ausschlafen, ohne in der Früh um sieben aufstehen zu müssen, um irgendwohin zu hetzen, nicht wissend, ob es was bringt oder nicht. Zu früh aufstehen hat sich noch nie wirklich gelohnt...


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