Panamericana-Tour 2002
Sonntag, 11. August

Auch in der Nacht kam kein Catarina angegrattelt. Aber man konnte überhaupt nichts sagen, außer makabere Witze machen. Man darf schließlich alles im Leben verlieren, nur nicht den Humor - hat mir mal ein alter Fremdenlegionär gesagt. Wir legten uns schlafen. Endlich passiert hier mal was Spannendes. Wir schliefen in aller Seelenruhe ein.

Am nächsten Tag ging das bunte Treiben in aller Hergottsfrühe wieder los. Der nicht abreißen wollende Strom der schwerbepackten einheimischen wälzte sich links und rechts am Daimler vorbei und verschwand in den sogenannten Kleinbussen, deren Fassungsvermögen um vieles höher lag, als man es bei reiner Betrachtung auch nur ansatzweise vermuten konnte.

Eingeparkt und mitten im Gedränge, der alte Daimler

Mitten unter den Tausenden, die der Zug ausspie, befand sich auch Catarina. "He, cool. Ich dachte schon, Du Arsch hast Dich da oben in aller Seelenruh' erschlagen und ich kann hier Wochenlang auf Dich warten. Find' ich sozial, daß Du doch nicht krepiert bist." Er fuchtelte mit der Hand winkend vor dem Gesicht eines Peruaners herum. "Spinnst jetzt Du? Laß den Typ doch in Ruh'" "Wollt nur Tschüß sagen, bei dem hab ich heut übernachtet." Natürlich waren wir alle auf die Geschichte gespannt.

Als wir uns am Checkpoint trennten, stiefelte er also los um auf den Berggipfel zu kommen. Anfangs ging es ganz gut, doch dann wurde es immer steiler und er hatte keine Vorräte, keinen Zucker und vor allem kein Wasser dabei. Doch er bildete sich ein, der Gipfel konnte nicht mehr weit sein und anstatt umzukehren, ging er weiter. Die Kräfte schwanden ihm und irgendwann setzte er sich hin. Als er merkte, daß er nicht weiterkam, und ein paar Touristen in der Ferne vorbeilaufen sah, rief er um "Häouppy", was wohl soviel wie "Help" heißen sollte. Die Touris aber meinten wohl, er wollte sie veralbern und liefen weiter. Resigniert legte er sich also auf den Boden und schlief ein. Da er aber auch keine Uhr hatte, wußte er nicht, wie lange er da gelegen hatte und wäre es nicht kälter geworden, hätte er wohl weitergeschlafen. Aber er raffte sich auf, und kehrte um, da langsam die Dunkelheit sich schon breitmachte. Als er unten ankam war nur noch der Wächter da und der erklärte ihm grinsend, daß weder Bus noch Zug mehr fuhren. Er ging in das Dorf, das sich um die Endstation gebildet hatte, ging ins Internet und quatschte wohl irgendeinen Peruaner an, aktiv oder passiv und der stellte ihm eine Ecke in seinem Haus zur Verfügung, in der er sich zur Ruhe bettete. Das war die Geschichte in Kurzfassung, auf die Lange Fassung warte ich noch.

"Nun, nicht lange Reden geschwungen, aufgepackt und aufgesessen, wir müssen weiter." Während wir zusammenpackten wollte ich schon mal den Motro anwerfen, damit er schön warm war. "Auweh... das geht schief", sagte ich, als ich beim Vorglühen schon merkte, daß die Lichter immer schwächer wurden. Als ich am Schlüssel drehte, tat sich nichts. "Haha, dös wor jo mir auch glaarr... Nä?" "Was?" "Springt nicht an... brauchen Starthilfe..." Ich zog los, nachdem ich die Starhilfekabel aus den unendlichen Tiefen des Kofferraums ausgegraben hatte, und fragte einen nach dem anderen. Ein Taxler hatte es eilig, der andere war zu teuer, aber der der dritte fragte, ob ich ein Kabel hätte. Er fuhr vor, die Kabel hatte ich schon in Stellung gebracht. "Rot ist positiv, schwarz ist negativ", schrie ich Cat zu, der gerade die haube öffnete und setzte mich ins Auto. Er schloß sie an, ich glühte vor,. er hieß den Typen gasgeben und schon lief der Daimler. Er nahm die Kabel ab, schloß die Haube, bedankte sich und brachte mir die Kabel, nach einer Vierteldrehung lief der Daimler und sang sein altes Lied.

Ein Lied geht um die Welt
Ein Lied, das uns gefällt
Die Melodie erreicht die Sterne
Jeder von uns hört sie so gerne.
Von Eisen singt das Lied,
Von Treue singt das Lied.
Die Melodie wird nie verklingen
Er wird es ewig singen,
Fließt auch die Zeit,
Das Lied bleibt in Ewigkeit...

Das klappte ja, wie aus dem FF. "Leinen los!" Wir fuhren an. Der Stau hatte sich mittlerweile wieder aufgelöst, wir standen erst am Dorfplatz, aber nicht wegen Stau, sondern weil Cat Photos schießen mußte.

Nun waren wir auf dem Rückweg. Drei Tage mindestens, rechneten wir bis Lima. Dort wollten wir ins Netz, Wäsche waschen, diebeiden wollten in irgendein Nationalmuseum und dann konnte es auch schon weitergehen. Cat wollte nach Möglichkeit bis Zentralamerika mitfahren. Nun galt es, zu prüfen, was an dem Gerücht war, daß von Equador nach Panamá eine Fähre ging, wie uns der Schweizer damals auf dem Camping in Ushuaia erzählt hatte. Er sei mit seinem Land Cruiser für 700 Dollar von Panamá-Stadt nach Manta / Equador gefahren. Daher war unser Ziel Manta., da aber Guayakil, die eigentliche Hauptstadt Equadors auf dem Weg lag, würden wir natürlich erst dahinfahren. "Wie schaut es mit Kolumbien aus?", fragte Cat, "das würde mich schon interessieren." Gabi legte sofort Protest ein, als das Wort "Colômbia" fiel. Abertausende von Kilometern von der Grenze. Noch waren wir noch nicht mal in Lima und von Lima aus war es noch ewig weit bis Equador.

"Wie schaut denn das jetzt nun mit dieser Tanja aus? Mach mal was, daß die herkommt, was ist denn das überhaupt für eine?" Gabi erzählte die Geschichte. Erzählen kann sie, wie kaum jemand, den ich kenne. Tanja ist eine Krankenschwester. Deutsch, Mittelschule, das ganze Jahr wird gearbeitet und im Urlaub wird an den Gardasee gefahren. "Mal Zeit, daß die Dame mal ein wenig rauskommt." Natürlich brauchte ich nicht noch einen Touristen, aber um einen LapTop an Bord zu kriegen, würde ich sogar mit dem Teufel persönlich zur Hölle fahren. Es mußte alles vorzüglich hinhauen, damit Gabi genügend Propaganda macht und Tanja sich überzeugen läßt, daß eine Fahrt durch Zentralamerika nicht sofortiges Sterben zur Folge hat. Möglichst alles so, wie daheim, friedlich, unkompliziert und einfach mal einen Monat nur ausspannen. Zurücklehnen, die Landschaft genießen, ich kümmere mich um die komplizierten Stellen. Natürlich hatte ich selbst nicht sehr viel übrig für Sommer, Sonne, Strand und Palmen. Das ist Urlaub. Wir tun hier Reisen und da gehört es dazu, sich mit Idioten an der Grenze herumzuschlagen, in irgendeiner Dreckecke zu pennen und zu versuchen, auf unbekanntem Terrain möglichst das zu bekommen, was man benötigt. Und dazu gehört es auch, Ärger in Kauf zu nehmen, wenn es unbedingt sein muß und Systeme zu knacken. Aber auch das gemütliche Gondeln durch fremdes Land. Catarina sah das ganz genau so.
Er hatte Bilder von Seiner Fahrt nach Nordbrasilien, hatte es irgendwie geschafft, daß er auf der Transportfähre mitfahren durfte, von Mücken zersochen in der schwülen Hitze mit Fieber in Manaus ankam. Er hätte auch einfach fliegen können und für das Geld, was er für das Schmieren benötigte, zwei Tage im Hotel auf sein Dreirad warten können. Aber das ist es nicht. "Das muß man einfach mal gemacht haben", mit den Fährmännern, die nichteinmal die auch nur die schlechteste staatliche Schule besucht hatten auf dem Amazonas zu fahren. Das ist schon etwas anderes, als sich einfach nur ein Flugticket zu kaufen, denn dann würden wir uns sagen, ist es noch einfacher und billiger, einfach daheimzubleiben und sich Manausbilder im Internet anzusehen.

Also, ich wäre noch ein Stück weiter von der Straße weggefahren, auch wenn hier kaum Verkehr ist.

Darüberhinaus kamen wir dann auf etwas anderes zu sprechen, nämlich über Urlaub an sich. Ich könnte mir wohl vorstellen, einen All-Inclusive-Urlaub für Billig zu buchen, auf irgendeine Touri-Insel wie Mallorca, Teneriffa, DomRep, woauchimmer zu fahren und zwei Wochen im Ressort abzuhängen. Habe ich kein Problem damit, denn der Zweck der Reise wäre, einfach abzuflacken und sich bedienen zu lassen. Wenn ich soetwas machen, dann fliege ich in Urlaub.
Gabi wiederum meint, sie könnte das nie machen, denn da würde man vom Land nichts sehen. Natürlich nicht, aber was interessiert mich das Land? ich fliege in Urlaub. Das ist wohl der goldene Mittelweg, im Urlaub ein wenig zu reisen. Nur vertragen sich diese beiden Sachen miner Überzeugung nach nicht. Überhaupt nicht, es ist ein Unterschied, wie Öl und Wasser, sieht von weitem ähnlich aus, doch haben miteinander nicht nur nichts zu tun, sondern man kann beide auch nicht vermengen. Die Definition von Urlaub lautet: "Urlaub ist die Zeit, die der Arbeitnehmer von seinem Arbeitsplatz mit der Genehmigung des Arbeitgebers fernbleiben darf." Urlaub ist zeitlich stark begrenzt, enthält nur berechenbare Unbekannte. Menschen, deren primäres Ziel es ist, sich eine schulmäßige Existenz aufzubauen, sprich: Schule, Ausbildung / Studium, Beruf, Familie, Rente, Sterben, bleibt meist nur der Urlaub, um für einige Tage im Jahr Kräfte zu sammeln, um die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen, oder um in ein Leben zu flüchten, von dem man nur träumt.

Die Reise ist schon per Definition etwas ganz anderes: "Der Begriff Reise (v. althochdeutsch: risan: aufstehen, sich erheben) bedeutet eine Ortsveränderung, z.B. eine Fahrt zu einem entfernteren Ort. In der Reise liegt die Möglichkeit besondere Erfahrungen zu machen. Sich Abzusetzen von der 'Realität' einerseits, andererseits die Erlangung und Gestaltung neuer Räume und Welten." Sie wird nicht direkt von jemandem genehmigt, sondern unternommen, meistens Freiwillig. Leute, die durch welche Umstände auch immer sich keine klassische Existenz aufbauen könnnen oder wollen, die nicht einem Arbeitgeber verpflichtet sind, machen sich aus den verschiedensten Gründen auf den Weg: Wurzellose Zigeuner, Streuner, Glücksritter, Suchende, nach einem besseren Leben, oder nach der Sagenhaften blauen Blume oder einfach Leute, die aus irgendeinem Grunde, sei es durch Erbschaft, Diebstahl, Glück, es sich einfach leisten können, durch die Lande zu ziehen, denen der Weg das Ziel ist.
Ich möchte nicht das eine über das andere stellen oder beide Sachen gegeneinander aufwiegen. Ich bekomme viele Zuschriften, in denen mein Mut bewundert wird und ich schreibe jedesmal zurück, daß es nicht der Mut ist, der einen forttreibt, bei weitem nicht und nur derjenige, der sich einmal selbst auf den Weg macht, und sei es auch nur, um nach Südmarokko zu fahren, der wird feststellen, daß er seinen ganzen Mut umsonst mitgenommen hat. Was man braucht ist nur die Fähigkeit, sich von der Welt in die man sich hineingelebt hat, trennen zu können. In meinem speziellen Falle mag es daran liegen, daß wir von klein auf nie die Chance hatten, uns irgendwo richtig zu verwurzeln. Kaum waren wir irgendwo "daheim", schon wurde der Alte Herr wieder versetzt. Von Osterrad nach Schifferstadt nach Brasilien, wieder zurück und so weiter. Und ich tat das meine, kaum zwei Jahre an einer Schule, hielten es die Lehrer nicht mehr aus und ich stand da und meine Alten durften mir eine neue Schule aussuchen, aus der ich nach wenigen Jahren auch wieder hinausflog. Der ständige Wechsel meiner Umwelt wurde mir zur Ersatzheimat, daher fiel der Aufbruch nicht schwer. Umso mehr aber lernt man genau die Dinge zu schätzen, die einem beständig erscheinen, von denen man jetzt schon weiß, daß sie auch in Jahren noch da sein werden, und wenn wieder eine Welt vor die Hunde ging oder im Meer der Erinnerung versank. Richtigen Bestand hat nichts, denn alles fließt, daher schreibe ich auch ausdrücklich "beständig scheinen". Dazu gehört die Familie, die wenigen Freunde, die man hat, welche aber auch im nietzscheschen Sinne zu verstehen sind, der Daimler, natürlich und damit hat man es denn auch schon wieder fast alles umfaßt.

Wieder eine Pause an der höchsten Stelle der Strecke.

Daher war es für mich nicht besonders schwer, damals loszufahren, im Gegenteil. In Deutschland zu bleiben wäre in meiner Situation wesentlich schwieriger gewesen und ich habe mir schon immer den Weg des leichteren Widerstandes geliebt. Und trotz allem hat man die Sicherheit: Kommt es wirklich hart auf hart, dann kommt man auch heim. Die Zeiten, in denen man verloren war, sind vorbei. von jedem Punkt der Welt kann man innert einer Woche wieder daheim sein. Viel schwieriger ist es, sich selbst die Frage zu beantworten, ob man das denn auch selbst will - wenn man eine Weile weg ist. Das hatte mit Erwin Thoma erzählt, der damals seit 22 Monaten unterwegs war. Nun hatte ich ihn eingeholt, und ich selbst könnte die Frage nicht mit letzter Sicherheit beantworten, wenn ich der betroffene wäre. Fest steht, daß das ziel-, sinn- und planlose Umherirren Spaß macht ohne Ende. Es sei jedem empfohlen und besser, als die Zeit im Büro, in der Uni oder am Bahnhof zu versitzen ist es bestimmt - zumindest für den Augenblick. Und man muß noch eines feststellen: Wenn man glaubt, man wisse bescheid, wenn man viel gereist ist, so ist meine Erfahrung genau gegenteilig: Je mehr man reist, desto besser erkennt man, daß man eben nichts weiß. Wenn mir Leute schreiben und mich um Tipps bitten, kann ich nicht viel mehr tun, als über meine Erfahrungen zu berichten, immer mit dem Hinweis, daß das meine Erfahrungen seien, und daß die Erfahrungen des Fragenden durchaus genau Gegenteilig sein können. Das Reisen ist und bleibt immer etwas Subjektives, wäre es das nicht, dann könnte man es eben in Sachbüchern nachlesen und hätte keinen richtigen Grund, selbst loszufahren.

Doch zurück auf die Panamericana. Wir fuhren wieder denselben Weg zurück. Nazca lag ungefähr auf halbem Weg zwischen Cuzco und Lima, allein lagen zwischen Cuzco und Nazca die Anden, was für diese Hälte mehr als die doppelte Zeit in Anspruch nahm Der Daimler hatte einiges zu schaffen, er war der einzige, dem wirklich einiges abverlangt wurde, nämlich in dieser Höhe uns möglichst schnell voranzubringen. Man merkte zum Beispiel, wenn man nach einer bergabstrecke wieder auf das Gas ging, daß ein starkes Ruckeln durch das Auto ging. Ich mußte es jedes Mal mit der Kupplung ausgleichen. Wenn er anfing, ging ich mit der Kupplung bis kurz hinter den Druckpunkt, gas Vollgas und kuppelte langsam wieder ein. Eine pechschwarze Dieselwolke blieb in der Luft hängen. Und schwarz soll sie sein. Wir hielten in einem Kaff, dessen Name wohl Oro Verde gewesen sein muß, um etwas zu Essen. Vorher wechselten wir noch Geld. Natürlich stand wieder das übliche zur Auswahl, nachdem alle Pizzerias noch zu hatten. Catarina wurde die sucherei irgendwann zu blöd und er sagte: "Macht's was ihr wollt, ich geh jetzt da hinein..." Und er ging. Gabi und ich gingen in ein anderes Restaurant und ließen uns das Tagesmenü bringen. Suppe, Gockel, Pommes.

Hinterher kauften wir uns noch Wegzehrung in Form von frischgepreßtem Nußgebäck und machten uns weiter auf den Weg, so weit wie möglich in den Westen, auf Nazca zu, vorzustoßen. Cat und Gabi schliefen, der Daimler und ich kämpften uns über die Piste. Ich legte die Abba-Kassette ein. "The Winner takes it all..." Das zählt für mich immer noch zu den schönsten Stunden einer Reise, das könnte ewig so gehen und würde mich nicht stören. Wir kamen bis Albancay, dann machten wir eine Sense. Allerdings nicht an der selben Tankstelle, an der wir auf dem Herweg blieben, sondern an einer, die am Ortseingang, dem damaligen Orteingang lag. Dort stellte ich das Auto mit dem Bug im 30°-Winkel an die Wand und genau da blieben wir.


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