Panamericana-Tour 2002
Montag, 29. Juli

Wir fanden sogar noch ein offenes Pizzalokal, fraßen uns voll, denn Argentinien ist seit der Krise ein wirklich preiswertes Land geworden und anschließend legten wir uns in dem Hinterhof einer Tanke schlafen. Um halb Zehn fuhren wir weiter in Richtung Córdoba. Auf dem Weg suchte ich noch nach Batterien für die Kamera. Sie ging trotzdem nicht.Verdammt. 160 Dollar in den Sand gesetzt. Wieviel Diesel ich dafür wohl bekommen hätte? Bleibt nur noch die Hoffnung, daß sie mir jemand abkauft, der dazu in der Lage ist, sie zu reparieren. Wenn man bedenkt, daß solche Geräte hier nicht unter 300 Dollar zu haben sind, kann es schon sein, daß man sie für 150 loswird.

Als wir um viertel nach Drei in Córdoba ankamen (km 739.160) und an einer Tankstelle zum Diesel bunkern anhielten sprachen uns zwei Argentinier an. Woher wir seien und wohin wir wollten. Wir erzählten ein wenig und nach dem Gespräch stand fest, daß wir nach Süden in Richtung Mendoza fahren mußten. Es war Winter und über die Anden führte nur ein einziger geräumter Paß, alle anderen seien zu. Das bedeutet einen riesigen Umweg, erst weit nach Süden und dann wieder hoch in den Norden, das sind zwei Tage, die uns dadurch verloren gehen. Mindestens... und die Zeit, sie rinnt. Weiter, also, bloß keinen unnötigen Aufenthalt.
Mich nervte es, daß die Kamera nicht funktionierte, dabei habe ich sie beim Kauf eigens getestet und ein Bild gemacht. Ich hätte stutzig werden sollen, als die Verkäuferin mir nicht gleich die Kamera gab, sondern mich kurz warten hieß. Aber sie ging doch! Das Probebild aus dem Laden hatte ich nicht gelöscht. "Warum passiert immer mir so ein Scheiß?"

Die Sonne versank langsam und ich spielte während der Fahrt an der Kamera herum. Catarina ließ mich mindestens fünf mal anhalten, um den Sonnenuntergang zu photographieren. Jedes mal, kam er zurück ins Auto und meinte, daß sei bestimmt eine grandiose Aufnahme geworden, aber ein paar Kilometer weiter hatte sich die Farbenpracht wieder geändert und wieder wurde angehalten. "Kruzefix! Ich will auch Bilder machen, warum geht das Scheißteil nicht?" Ich schlug die Kamera gegen das Lenkrad, versuchte es wieder und - siehe da - sie ging plötzlich. Brasilianische Probleme erfordern brasilianische Reparaturmethoden.

Auf dem Weg nach San Luís...
An irgendeiner Stelle an einem See auf dem Weg nach San Luís.

Die Namensgebung der Ortschaften war recht einfallslos, wir fuhren durch "Erster Fluß", "Zweiter Fluß", "Dritter Fluß". Als wir durch Rio Quarto fuhren (= "Vierter Fluß") sah man schon von weitem, daß ein Unfall mit Toten passiert war. Wenn Autos auf der Straße stehen, Menschen daneben, etwas am Boden liegt und keine Aufregung herrscht und auch keine Sanitätskraftwagen zur Stelle sind, dann weiß man: Da gab's Tote. Und so war es dann auch. Er lag mitten auf der Straße, auf der Mittellinie in einer dunkelroten Lache aus Blut. Wir fuhren daran vorbei, bald darauf an dem uralten Lastwagen, der ihn wohl erwischt haben muß. Es war ein junger Mann gewesen, schätzungsweise um die Mitte Zwanzig. So schnell kann es gehen. Ich fuhr vorbei an einigen Autos, die gestoppt hatten und weiter ging's. Catarina war etwas aus der Fassung, als hätte er noch nie eine tote Leiche gesehen. "He, Alter, was los?", fragte ich ihn.
"Der war tot! Hast Du Idiot das nicht gesehen?"
"Natürlich hab ich das gesehen, oder meinst Du, ich denke, der macht da seine Siesta."
"Da kann man doch nicht einfach vorbeifahren, als wäre es ein Tier."
"Ja, was soll ich denn machen? Gedenkminute einlegen? Dem kann keiner mehr helfen. Das passiert täglich tausendfach und gerade Du, in Brasilien aufgewachsen, solltest eigentlich Dich längst schon an den Anblick von Toten gewöhnt haben. Flacken dort ja überall auf der Straße rum. Brauchst nur nach Rio fahren, um sechs Uhr morgens durch den Complexo do Alemão."
"Das ist ja was anderes. Das ist Verbrechen. Aber das hier war ein Unfall."
"Tot ist tot. Das geht oft schneller als man denkt, dann uns in einer Minute auch passieren. Ein LKW fährt uns platt und zurück bleibt ein Haufen verbogenes Blech und ein paar Blutflecken und Knochensplitter. In Deinem Fall ein riesiger Fettfleck mit Deiner Wampe da. Warst Du nicht dabei, als es den einen derbazt hat vorm Laden vom Tulio? Wie hieß er gleich wieder? Minhoca? Serpente? Irgend sowas."
"Nein. Warst Du da?"
"Ja klar. Der Thoma und ich hatten uns dort zum ersten mal getroffen und unterhielten uns. Der besagte Depp hat sich mit seiner Alten gezofft, ist auf seine Maschine gestiegen und losgebrettert wie ein Idiot. Brasilianische Straßen, brasilianisches Temperament, japanische Maschine - das kann nicht gutgehen. Da hat man erst noch die Maschine gehört, die in jedem Gang hochgejault hat und dann ein Scheppern und dann Stille. Kurz darauf große Aufregung, alle waren weg. Nur der Thoma und ich saßen noch da und er hat den anderen noch hinterhergebrüllt: 'Da braucht's ned hinfahren. Der ist hin...' Und das war er auch."
"Thoma? War das der Deutsche, den die Ingrid getroffen hat?"
"Ja, genau der."
"Das zählt nicht, der war auch Deutscher und die sind bekannt dafür, daß sie keine Empfindungen haben." Er starrte weiter vor sich auf das Armaturenbrett. Ich fuhr ihn an. "Du Schwuchtel, sag mir lieber, wo wir langfahren müssen." Er schüttelte nur den Kopf. Daß ihm das so naheging verstand ich nicht. Wenn ich meines Cousins Geschichten hörte, als er für die Zeitung arbeitete und durch den "Complexo do Alemão" (Komplex des Deutschen, einer Favelasiedlung in Rio) fuhr, und jeden Morgen ein neuer Toter zur Abschreckung auf der Straße plaziert war, da meint man doch, Brasilianer seien das gewöhnt. Aber wahrscheinlich ist es eine andere Situation. Was etwas befremdlich war, war die Tatsache, daß uns dieser Tote in dem zivilisiertesten Land dieses Kontinents vorkam. Ähnlich wie damals an der Elfenbeinküste. In Mali oder Burkina hat es mich nie gewundert, aber die Elfenbeinküste war ein anderer Schlag und dort war es auch ein Verkehrsopfer. Die Technik fordert anscheinend ihre Opfer, das hat sie schon immer getan und sie wird es weiterhin tun. Und es muß so sein, denn ohne die Technik würden die, die über die Opfer klagen, die sie auf ihrem Fortgang fordert, noch viel mehr zu Klagen haben. Das nur mal so, nebenbei, und nicht auf nur auf diesen Einzelfall bezogen.

Weiter brummte der Diesel durch die Nacht. Wir durchfuhren wieder die Ortschaft Mercedes. Leider blieb keine Zeit für ein Bild, ich machte Druck und Catarina regte sich auf, daß es auf die Minute dann auch nicht ankäme. Wo sei denn das Problem, wenn Gabi eine oder zwei Nächte in Lima in einem Hotel übernachten müßte? Eigentlich hatte er ja Recht, aber erstens kannte er Gabi nicht, zweitens fühlte ich mich irgendwie verpflichtet, immerhin war es meine Schuld, daß wir in Brasilien erst so spät losgefahren waren.

Es ist immer das selbe, wenn es an den großen Aufbruch geht: Erst brennt man darauf, endlich wegzufahren, loszukommen und dann genießt man doch noch den süßen Abschiedsschmerz in vollen Zügen.

Wir fuhren schweigend weiter. Die Straßen waren gut. Catarina war, wie schon erwähnt, zum ersten Mal in seinem Leben außerhalb Brasiliens, von einem kleinen Abstecher nach Venezuela abgesehen, der etwa eine oder zwei Stunden dauerte. Er war sehr überrascht, wie groß doch der Unterschied ist, wenn man plötzlich Brasilien verläßt und nach Argentinien hineinfährt, obwohl Argentinien ein Land ist, das in einer sehr schweren Wirtschaftskrise steckt. Man spürt einfach, daß alles aus einem anderen Holz geschnitzt ist. Hier muß man bei Nacht nicht Angst haben, in einem Schlagloch auf Nimerwiedersehen zu verschwinden, davon kann man in Brasilien nur träumen und die meisten Leute in Brasilien glauben, daß das überall auf der Welt so sei wie es bei ihnen daheim ist. "Aber das hier ist Argentinien", sagt er, "das ist dritte Welt. Wie muß es da erst in Europa oder in den USA sein?" Wir hatten noch einen weiten Weg vor uns. An der Pazifikküste ganz Südamerika hoch, durch die letzten Länder dieser Erde und - hat man das geschafft, dann kommt erst die große Herausforderung, der Engpaß, unser Gibraltar, sozusagen. Jetzt wird mancher fragen "Wieso?" und da kann man vernünftigerweise nur mit Wolfgang Petersen / Lothar Günther Buchheim kontern: "Wieso!? Darién Gap!!! Kannst Dir wohl am Arsch abfingern, was das heißt. Das ist eng wie 'ne Jungfrau. Wenn wir da durch wollen können wir unseren Karren mit Vaseline einschmieren..."

Aber daran wollte ich noch gar nicht denken. Es kommt immer, wie es kommt und wir hatten es auch in Afrika geschafft. Zwar hatte ich damals eine Almut dabei, die mir eine unschätzbare Hilfe war, diesmal nur Gabi mit Nullerfahrung und Catarina, Reiseerfahren, aber keine Auslandserfahrung, und Cat war auch nur für begrenzte Zeit Gast an Bord. Ob der es zeitlich bis dort oben schaffen würde war fraglich, denn er hatte nur einen knappen Monat Zeit. Und wer weiß, ob wir es in einem Monat überhaupt schaffen würden. Eher unwahrscheinlich.

Kurz vor Mitternacht erreichten wir dann San Luís (23:50 Uhr, km 739.620). Wir übernachteten in der Halle einer Tankstelle. Es wurde merklich kühler je weiter man nach Süden kam. Wir entfernten uns immer mehr von unserem ersten Wegpunkt, von Lima. Und uns stand die erste Andenüberquerung auf der Fahrt bevor. Ich habe natürlich den Ölwechsel immer wieder aufs neue verschoben und wieder verschoben. Vor den Anden mußte ein Ölwechsel gemacht werden, unbedingt. Nur nicht wieder so ein Fiasko wie letztes Jahr. Wir blieben hier übernacht, wieder mal an einer Tankstelle...


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