Panamericana-Tour 2002
Samstag, 21. September

Um siebeneinhalb Uhr wachte ich auf. Die Sonne springt in diesen Breiten blitzschnell über den Horizont und heizt die dumpfe Luft in wenigen Minuten auf. Alles verwandet sich in eine Waschküche. Da kann man beim besten Willen nicht einfach liegenbleiben. Und falls das Wetter dabei versagt, sorgt Gabi dafür, daß an einen ruhigen Schlaf nicht zu denken ist. Schon vor Acht fängt sie an, Streß zu machen. War ja klar. Der Tauchgang beginnt in einer Stunde, die Tauchschule ist höchstens drei Kilometer weg, man fährt zwischen fünf und sieben Minuten, es gab keinen Grund, jetzt schon Streß zu schieben. "Jetzt ist's gut. Da muß man nicht eine Stunde vorher auftauchen. Außer Dir sind alle im Urlaub", hätte ich sagen können. Ich ließ das weg und meinte stattdessen nur: "Wir haben noch eine Stunde Zeit, und die anderen werden auch nicht alle pünktlich sein." "Doch werden sie. Warum sagen sie sonst neun Uhr, wenn jeder kommen kann, wenn er will?" Ach, halt doch die Fresse... Ich ließ mich weiterhin zur Eile treiben und quittierte das mit immer langsamerwerdenden Bewegungsabläufen. Dann fiel mir ein, daß ich doch etwas frühstücken wollte. Normalerweise funktioniert das. Aber jeder Straßenköter hat mehr Lernvermögen. War noch nie anders. "Laß den Motor laufen, dann gehen Null komma irgendwas Liter Diesel als Ruß in die Luft. Mach ihn aus, und es wird mindestens das Zehnfache." Es ist eine einfache Ansage. Würde jeder verstehen. Nein. Gabi ncht. Die macht den Motor aus - wahrscheinlich "weil sich in Equador immer alle Leute in Sachen einmischen müssen, die sie nichts angehen", um sie zu zitieren.
Kapier ich nicht. Aber ich hatte beschlossen, mich dadurch auch nicht beirren zu lassen. Mir doch egal. Sie ist nur glücklich, wenn sie Streß machen kann, also gab ich ihr dazu reichlich Gelegenheit. Ich machte noch in Schönschrift einen Eintrag ins KTB: "0800 Gabi fängt pünktlich an, Streß zu machen (manche Leute lernen es nie)".

Unser Nachtplatz auf N 9° 39,106'   W 82° 44.308'
Unser Nachtplatz auf N 9° 39,106' W 82° 44.308'

Aber irgendwann wurde es doch zu nervig und ich fuhr los. Um 08:35 Uhr standen wir vor der Tauschschule. Der Tauchgang soll um Neun losgehen. Natürlich war kein Mensch da. Wie schon erwähnt: Außer Gabi sind die Leute, die einen Tauchgang buchen alle im Urlaub, nicht auf der Flucht. Noch nicht einmal die Tauchschule hatte überhaupt offen. Gabi war etwas verwundert. Ich nicht. "Wieso soll die auch jetzt schon aufhaben? Neun Uhr heißt nicht halb Neun. Und in Lateinamerika schon gar nicht. Da bedeutet es eher halb zehn", kommentierte ich sinnloserweise. "Nein, heißt es nicht", antwortete sie. Na gut. Dann nicht. Was soll ich rumdiskutieren?

Ich las lieber weiter in dem Buch, das mir Gabi geliehen hatte: Bildung, von Schwanitz. Man mochte davon ja halten, was man wollte, aber es liefert eine Gebrauchsanweisung wie man zumindest gebildet klingt. Wieso Gabi dieses Buch gelesen hat? Keine Ahnung. Vielleicht hat auf VIVA oder MTV ein Treadlock-Neger gerapt, daß das Buch cool sein soll, vielleicht hat ihr der Titel gefallen.
Von wegen "Reisen bildet". Das hat wahrscheinlich so ein Schlaumeier erfunden, der selbst nie unterwegs war. Das haben die Sprücheklopfer so an sich. "Ora et labora", "Arbeit macht frei", die stammen von irgendwelchen Typen, die selber nie einen Finger gerührt haben.

Die Zeit verstrich. Bestimmt hatten die gesagt, daß man sich gegen Neun hier langsam einfindet, und nicht "Pünktlich um Null Neunhundert zum Taucheinsatz fertig..." Es war schon kurz vor Neune, aber das eiserne Rolltor der Tauchschule blieb unten. Weit und breit keine Menschenseele. Gabi saß auf dem Beifahrersitz, mit verschränkten Armen und starrte genervt aus dem Fenster. "Jetzt kann aber wirklich mal irgendeiner auftauchen", grunzte sie ab und zu. Zum Glück warteten wir jetzt hier in der Sonne... Unser schattiger Nachtplatz hatte mich schon genervt. Ich sagte nichts. Mein Grinsen wurde immer breiter, als um dreiviertel Zehn immer noch niemand da war. "Weißt jetzt was ich mein'? Neun hat es geheißen und jetzt ist es? Zehn! Gut, daß wir schon um halb Neun hier waren.", rutschte es mir heraus. "Jaaaa! Tschuldigung, daß ich nicht neun Uhr sage, wenn ich zwölf meine.", bellte sie zurück. Nun, mich störte das Warten nicht. Und sonst auch niemanden. Nur Gabi.

Vor der Tauchschule in Puerto Viejo.
Vor der Tauchschule in Puerto Viejo.

Nun kam, um kurz nach Zehn einer, der das Rolltor aufmachte. So nach und nach tröpfelten die Leute auch ein. "Na, endlich!", kreischte Gabi und ging los. Gut so. Soll sie mal für ein paar Stunden jemand anderen ankläffen, damit ich mich wieder regenerieren kann. "Ah... Diese Ruhe..!" Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück, genoß die Aussicht, welche durch die vor meiner Haube herumturnende Tauch-Instruktöse sicher nicht beeinträchtigt wurde. Warum kann die jetzt nicht einfach ans Auto kommen und mich fragen, ob ich sie nach Mexiko fahre? Die darf dann sogar rumzicken und nerven und braucht nicht mal halb so gut kochen können wie Gabi. Damit könnte ich mich bestens arrangieren, denn bei ihr wäre es nicht das Gemecker, was mich umhauen würde.

Auch die anderen machten einen ziemlich entspannten Eindruck. Einer spielte Gitarre, andere unterhielten sich, saßen da, aßen, tranken. Gabi war nicht zu sehen, sie war irgendwo im Büro - wahrscheinlich war das Bild deshalb so friedlich. Es gab keine Eile. Erst gegen halb Elf ging es langsam los. Gabi kam nochmal zum Auto ans Fenster und sagte mir, daß sie um 14 Uhr zurückkommen werden. "Na, gut. Bis denn! Viel Spaß...", sagte ich und winkte ihr nach; als sie einige Schritte weg war, beschloß ich den Satz klassisch: "Blöde Sau..."

In einem quietschbunten Boot ging es dann hinaus aufs Meer - anderthal Stunden nach der Zeit. Und ich hatte einige Stunden Ruhe. Ich erkundete den Ort, suchte mir einen Laden, in dem ich ins Internet konnte. Jetzt hatte ich ein paar Stunden Zeit, meine privaten eMails allein zu lesen. Das ist doch mal was. Und wie ich so durch den kleinen Ort auf und ab fuhr, fiel mir in irgendeiner Ecke ein Wrangler Jeep auf mit italienischem Kennzeichen.

Republica Italiana - Rieti
Kennzeichen aus Rieti / Italien.

Das sah einladend aus. Ich parkte daneben, sah mir die Kiste an. Offensichtlich hier rüber verschifft, denn der war zwar staubig, sah aber sonst sehr gut aus. Der Parkplatz gehörte zu einem Restaurant. Das war auch wieder in diesem karibischen Stil gehalten: Dicke Äste als Pfeiler, dann ein Strohdach. Das läßt sich nach einem dieser Karibikstürme schnell wieder aufbauen bzw. zurückholen, wenn es wegfliegen sollte...

Im Restaurant war nur eine Bedienung. Sie kam mir wunderhübsch vor, was weniger an ihr lag, als vielmehr am Kontrast zu dem, was in den letzten Wochen meinen Beifarersitz plattsitzt. Und sie war auch wirklich nett, wozu auch ebendieser Kontrast beitrug. Immerhin gab mir ein Eis aus und unterhielt sich mit mir, und zwar ganz normal. Ich fragte, wo es hier ein Internetcafé gibt. Das konnte sie mir nicht sagen. Sie wußte keines. Aber macht auch nichts. Mir gefiel es hier. Es war schön kühl, ein Eis hatte ich auch bekommen, und ich kann nicht leugnen, daß es mir gefiel, mit einer halbwegs gutaussehenden Frau ganz normal zu reden. Ich sprach sie auf den Jeep an. Der gehöre dem Chef. "Und wo ist der Chef?", fragte ich neugierig. "Der ist nicht da, kommt heute auch erst bei der Nacht", antwortete sie, während sie den Kühlschrank mit Bier und kohlesäurehaltigen Warmgetränken einräumte, die irgendwann im Laufe des Tages darinnen abkühlen sollten.

Das mit den Frauen war schon seit Chile zu einer recht unansehnlichen Angelegenheit geworden. Das Format meist klein und rund, die Form erinnert an Baumstämme, das Farbspektrum bewegte sich nur zwischen hellbraun bis dunkelbraun. Selten kam es vor, daß man mal hier und da eine hübsche Frau sah. Und wenn doch, dann handelte es sich meistens um Touristinnen. Und selbst unter denen gab es optische Katastrophen - das weiß wahrlich keiner besser als ich. Die Guatemalesin an der Bar war eine der wenigen, die eine Ausnahme bildete, wenn auch nur im Kontext, nach der Devise: Unter den Blinden ist der einäugige König.

Das ein oder andere kalte Cola trank ich, während ich mich mit Ihr unterhielt - hier kann man mit Dollar zahlen. Kunden kamen nur ein paar, und die waren älter. Ich fragte sie, ob sie den ganzen Tag, hier hinter der Theke arbeiten würde. "Ja. Und heute nacht auch noch. Bis die Bar zumacht", ergänzte sie. "Und wann macht sie zu?" Sie zuckte mit den Schultern. "Hm... Die macht zu, wenn sie zumacht. Ist ganz unterschiedlich. Mal um elf, mal um fünf in der Früh... Kommt ganz drauf an, ob Kunden da sind oder nicht..." "Na, gut", verabschiedete ich mich, "vielleicht komme ich am Abend wieder vorbei... Jetzt muß ich meine nervige Beifahrerin abholen. Wenn ich nicht um Punkt Zwei am Anlegeplatz bin, dann kann ich mir den restlichen Tag ihr Gekreische anhören", sagte ich, und bestellte die Rechnung. "Punkt zwei?", sie sah auf die Uhr, "Jetzt ist es kurz vor Eins! Kannst noch eine Stunde sitzenbleiben und noch ein paar Colas trinken..." Wenn das so ist... Ich ließ mich wieder auf dem Barhocker nieder und mir noch ein Cola bringen und unterhielt mich weiter mit ihr. Zu tun hatte sie nicht viel.

Mercedes-Benz in aller Welt...
Die echten "ehernen Helden"...

Irgendwann machte sie mich drauf aufmerksam, daß es schon fast zwei Uhr war. Ich trank mein Cola aus, zahlte und ging. "Vielleicht bis heute abend", sagte sie. "Ja. Vielleicht. Aber wahrscheinlich nicht. 'El Dragón' wird es vermutlich wieder viel zu eilig haben. Trotzdem... War sehr nett. Danke für's Eis. Adiós... Außer, Du willst nach Guatemala. Das liegt auf dem Weg. Du zahlst ich fahre!" Sie lachte. "Nein, laß mal. Mir gefällt es hier besser. Außerdem habe ich dafür kein Geld..." Daß immer alles am nichtvorhandenen Geld scheitern muß. Nur zu gern hätte ich da einen Austausch vorgenommen und wäre dann schön in aller Gemütlichkeit bis nach Mexiko hinaufgefahren. Aber wenn sie genausoviel Geld besaß wie ich - nämlich gar keines - dann würden wir nicht weit kommen.

Zurück zum Auto, alle Fenster auf, damit die Hitzeglocke aus dem Auto wich. Dann warf ich den Motor an, und stellte die Lüftung auf höchste Stufe, steckte mir eine Cigarrette an und fuhr los. Als ich auf die Uhr sah, zeigte sie 14:43 Uhr an. "Oh-oh... Das gibt Anschiß...", dachte ich mir. Ach, was. Was kümmert's mich? Soll sie halt beleidigt sein.
Ich fuhr hinunter zur Anlegestelle und wartete. Die wird schon früher oder später auftauchen. Wo soll sie auch hin? Zwischen zwei anderen Autos, gerade noch im Schatten eines Baumes parkte ich, ging zum Kofferraum, holte die Decken heraus und legte sie auf den Blechen aus. Sehr schön. Ein wenig unter Palmen ausruhen schadet nichts - solange es keine Kokos-Palmen sind. Kaum war ich eingeschlafen, da krächzte es schon wieder los. "Hallo! Sind wieder da", kam es von hinten unten. "Wie? Seit wann?" Gerade angekommen. Von wegen 14:00 Uhr. Es war nach Drei, mittlerweile. Aber wenn es Gabi nicht störte, was, Teufel, schert es mich?

Was sollten wir nun mit dem angebrochenen Tag machen? Weiterfahren oder lieber hierbleiben? Wir enschieden uns dazu zu bleiben. Cool. Vielleicht klappte es ja doch, daß ich mich in die Bar schmuggeln konnte zu der netten Kellnerin? Vielleicht kam Gabi ja mit, sozusagen als Kontrastmittel? Mal sehen, wie sich der restliche Tag so entwickelte...

Zunächst fuhren wir los, um zu erkunden, was es so gab. Der Nachtplatz war schon in Ordnung. Im Ort gab es nicht viel von Interesse. Nicht mal eine Tankstelle mit Dusche. Und diese Schlaglochpiste nach Westen fahren, nur um wieder zurückzufahren war Nonsens. Das Restaurant, in dem ich vorhin war, das fand ich nicht mehr, trotz ausgiebiger Suche. Wie kann man nur so blöd sein? Ich fuhr auf und ab und kreuz und quer, aber ich fand und fand weder den Jeep, noch das Riesenrestaurant. Verdammt! Wenn einmal etwas so aussieht, als würde es nicht an Gabis Blödheit scheitern, dann springe ich mit meiner Blödheit tollkühn und absolut zuverlässig in die entstandene Lücke. Das Kaff ist winzig, das Restaurant riesig, aber nicht so groß wie meine Unfähigkeit.

Wir fuhren zum Nachtplatz zurück. Das Essen kam heute von der Bordküche. Während Gabi das Essen vorbereitete, schlug ich mir aus lauter Wut über mich selbst ein Jochbein blau. Wie ich das geschafft habe, bleibt mein Geheimnis... Ich hatte nicht die Absicht, mich weiterhin selbst in meinem privaten Idiotie-Wettbewerb zu übertrumpfen. Deshalb beschloß ich, einfach nach dem Abendessen schlafenzugehen. Es gab Nudeln. Angeblich waren sie versalzen. Das fand ich nicht. Gabi schon - aber sie führte es darauf zurück, daß die Pizza-Soße am 20SEP02, also gestern, "abgelaufen" war. Das wird es wahrscheinlich gewesen sein: gestern um punkt Null Uhr ist die Soße mit einem Schlag in der versiegelten Verpackung verfault. Gabis Welt besteht schließlich nur aus Nullen und Einsen. Hinzu kam, daß heute in Costa Rica wohl Idiotentag war. Nicht weit von uns entfernt konnten wir beobachten, wie sich der nächste Idiot in den Sand eingrub - aber mit einem sogenannten Geländewagen.

Der gräbt und schaufelt, solang er lent...
Heute hatte irgendwer eine Dose Blöde aufgemacht...

Nach dem Essen verschwand Gabi mit einer Holländerin, die irgendwo aus der Dunkelheit aufgetaucht war. Seltsame Erscheinung. Schon ein älterer Jahrgang, wohnte wohl im Haus gegenüber. Ich blieb am Auto. Da konnte ich nicht viel anstellen. Wenn man eine Pechsträhne hat, dann soll man einfach liegenbleiben. Nur zum Zwecke der Schadensbegrenzung. Das tat ich auch. In aller Behutsamkeit richtete ich mein Lager auf den Blechen her:
Erst die Isomatte direkt auf die Bleche. Darüber die beiden Decken, sorgsam gefaltet. Auf den Schlafsack konnte man getrost verzichten. Zu warm, zu schwül. Die Spaten kamen an die beiden Enden des Gepäckträgers, mit Expander befestigt, mit dem Stiel nach oben gerichtet. Dann wurde das ganze Ensemble mit dem Moskitonetz eingewickelt, ich stieg über Agrarhaken und Kofferraum aufs Dach hinauf, steckte das Messer griffbereit zwischen zwei Kanister, einen Stiefel als Moskitonetzhalter auf einen Dieselkanister, den anderen zum selben Zwecke in das Ersatzrad. Nun konnte man Mückenfrei schlafen. Was für ein Tag...
Gabi kam irgendwann zurück, legte sich auf die Rückbank und schlief. Ich bekam davon nichts mit, denn wenn ich schlafe, dann schlafe ich. Das lernt man spätestens in Afrika - oder nie mehr.


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