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Pakistan 2010
Donnerstag, der 7. Oktober

Ich enblödete mich nicht, schon so frühzeitig aufzustehen, daß ich um Acht da war, als Heike und Didi loswollten. Was hatte ich gestern noch gesagt?: "Wenn die um Acht da sind." Aber scheinbar bin ich von Leuten umgeben, die immer an das Gute im Menschen glauben. Zumindest von solchen, die es für gut erachten pünktlich zu sein. Mit anderen Worten: Alle waren da, nur von der Polizei fehlt jede Spur. "Wer hätt's gedacht?" - die Bemerkung konnt ich mir nicht verkneifen. Sie zogen von dannen mit dem Taxi, ich begab mich hinein ins Restaurant und bestellte Frühstück. Spiegelei mit Brot. Almut drückte mir Arnie in die Hand, und verschwand irgendwo, um irgendwelche furchtbar wichtigen Umräumaktionen im Auto zu veranstalten. Dabei fand ich heraus, daß es dem kleinen Kind gut gefällt wenn man es als Rammbock benutzt. Während die Spiegeleier fabriziert wurden, untersuchte ich also die im Raum hängenden Bilder. Es gab welche, die Schepperten, wenn man den Kleinen Kopf voran dagegendonnerte, andere waren gut befestigt und schepperten nicht. Bei Schepperbildern lachte er immer schön, wenn sie nicht schepperten sah er verstört durch die Gegend. Dann kamen die Spiegeleier und das Brot. Wir aßen also gemeinsam mein Frühstück auf und irgendwann standen lauter Uniformierte im Raum - eine Stunde zu spät. "Grüß Gott! Was geht, Alter?" - er verstand nichts, aber er schüttelte dennoch meinen Hand, die ich ihm hinstreckte. Die Rezeptionistin übersetzte. Wer denn nun wo hin wollte, wollten sie wissen. "Niemand, paßt alles. Wir hatten ja acht Uhr gesagt, aber das hat sich ja nun erledigt..." Im Verlauf des Gesprächs fiel dann die Tatsache unter den Tisch, daß zwei von fünf Touristen einfach fehlten. Wir verblieben jedenfalls so, daß wir die Rezeption benachrichtigen würden, wenn wir losfahren wollten.

Das Einzige, was Almut und ich tun konnten, um den Prozeß zu beschleunigen, war einkaufen zu gehen. Wir fragten an der Rezeption, ob es hier in der Nähe einen Shop gibt. "Gibt keinen", war die Antwort. Wir wußten nicht viel über die Strecke, die uns bevorstand. Es gab allerlei Gerüchte: Keine Kraftstoffversorgung, kaum Straßen, man muß mit drei Tagen ohne jegliche Versorgung rechnen zwischen Taftan und Quetta. Alles unbestätigt, zwar, aber wir pickten uns aus all den Gerüchten die schlimmsten Sachen heraus und stellten uns auf Worst Case ein. Für mich hieß das mindestens eine Woche ohne Coca-Cola-Nachschub. So zogen Almut und ich los, um Vorräte einzukaufen. Raus aus dem Hotel und rechts. Irgendwann wird schon ein Laden kommen, denn hier werden die Leute ihr Einkommen kaum vom Staat beziehen, oder dadurch, daß sie bei einem großen Autohersteller arbeiten. Und tatsächlich, nach einigen hundert Metern machen wir einen Laden aus. Cola- und Pepsi-Paletten standen Mannshoch davor, nicht einmal ich schaffte es diesmal, ihn zu übersehen. Auf dem Rückweg nahm Almut Arnie und ich die zwei Six-Pack-Anderthalb-Liter-Cola und wir gingen zum Hotel zurück. Nun fehlte aber das sogenannte Bier. Natürlich wäre alles viel einfacher gewesen, einfach mit dem Auto hinzufahren, aber wir wollten keine Aufmerksamkeit erregen. Unterm Strich geht es in diesem Falle zu Fuß schneller. Wenn wir erst warten müssen, daß die Polizei ankommt, um uns zum Laden zu begleiten, können wir gleich noch eine Nacht buchen. Auch der zweit Gang zum Laden verlief völlig unspektakulär und wir gingen wieder zum Hotel zurück, ohne, daß wir erschossen worden wären. Nun hatten wir alles: 12 Cola, 10 Bier und noch ein paar Sachen zu Essen. Geld hatten wir keines mehr. Abgesehen von einem 50.000-Rial-Schein, den irgendein Passant Arnie vermacht hatte. Aber das war seiner, den wollten wir nicht ausgeben.

Was tun? Wir legten die Einkäufe im Benz auf der Rückbank ab, Almut ging mit dem kleinen hinein und ich sah zu, daß ich das Auto startklar kriegte. Als erstes füllte ich Diesel aus den Kanistern in den Tank um. Nicht viel, sondern nur genug, daß nichts aus den Kanistern schwappte, falls ein Zöllner sie kontrollieren sollte. Die Dieseldecke hatte mittlerweile einiges im Kofferraum angesteckt, aber durch die Tankaktion war sie nicht besser geworden. Alles roch nach Diesel. Es kroch von der Decke zum nächsten Gegenstand, und wenn der getränkt war, weiter zum nächsten. Also nahm ich die Decke, ließ eine gute Menge Spülmittel darauf und suchte den nächsten Wasserhahn. Aber das war nicht so einfach, denn als ich den Wasserhahn gefunden hatte, kam ein Kaftaträger an und meinte, ich könne den nicht benutzen. Fein. Aber ich brauche Wasser. Er führte mich zum nächsten Wasserhahn und erklärte, daß man dieses Wasser ohne Bedenken trinken konnte. "Ah! Danke! Sehr gut", bedankte ich mich und machte mich daran, die Decke auszuspülen. Danach hängte ich sie auf der Sonnenseite des Gepäckträgers zum Trocknen auf. Die Scheiben sahen aus... Alles voll Diesel, alles verschmiert. Ich nahm den Schwamm aus dem Kofferraum, benetzte ihn mit Spülmittel und fing an, die Scheiben sauberzumachen. Nur abziehen konnte ich sie nicht, denn mein Scheibenabzieher lag im Kofferraum des Braunen in L.A. Also immer hin und her zwischen dem Wasserhahn und dem Daimler, bis die Scheiben blitzeblank waren. Da kam ein Anruf von Didi: "Wir haben die Visa, sind im Taxi auf dem Weg zum Hotel. Sind in spätestens 10 Minuten da." Ich nahm es zur Kenntnis und machte weiter. Als ich dann aus dem Bad kam, wo ich damit beschäftigt war, alle betroffenen Gegenstände von Dieselrückständen zu befreien, waren Heike und Didi da. "Ja, genau", sagte ich zu Almut, "das wollte ich noch sagen: Die anderen haben vor zehn Minuten angerufen und gesagt, daß sie zehn Minuten später hier sind." Ach, nee? "Gut, also von mir aus können wir los!" Wir bestellten die Polizei, richteten uns aber darauf ein, auch ohne Polizei loszufahen. Die würden uns schon fangen, wenn ihnen daran liegt, wenn nicht, dann fahren wir eben ohne Polizei zur Grenze. Damit hatte keiner von uns ein Problem.

Ich steckte noch meine High-Tech-Fliegenpatsche an, um sie zu laden. Wer weiß, wann wir wieder zu einer Steckdose kommen. Aber sicher weiß ich, daß uns Mücken blödkommen werden. Ich wollte nicht unbewaffnet dastehen. Bis zum letzten Augenblick lud die Patsche, dann kam Polizei. Gut. Wir wären auch so gefahren. Einer davon sprach Englisch, und wir erklärten, wir müßten zunächst Ost einkaufen, dann tanken, dann zur Grenze. Sie verstanden und wir fuhren los. Erst die Polizei, dann wir, dann der G.

Mit Polizeieskorte in Richtung Grenze.

Sie hielten an einem Obststand. Der Polizist bediente sich, wir auch. Als wir alles beieinander hatten, zahlten wir. Der Polizist nicht. Dann ging es weiter zur Tankstelle. Der Betrieb wurde unserethalben umdisponiert und wir wurden als erste betankt. Ich machte ein Bild des Menschenauflaufs um Didis Auto, aber der englischsprechende Polizist kam und meinte, ich dürfe Polizei und Militar nicht photographieren. Ich unterließ es also fortan, dabei erwischt zu werden. Aber das Bild mußte ich nicht löschen.

Beim Dieselfassen - ohne Genehmigung.

Die Polizei fuhr uns voran und übergab uns am ersten Polizeiposten am Stadtrand. Dort ließ man uns rechts parken und sagte, wir sollen warten bis "Escort" kommt. Doch der ließ sich Zeit. Es war heiß und es waren Milliarden von Fliegen hier. Ein Job für mich. Während die anderen im Schatten eines Containers saßen und eine kalte Cola tranken, vernichtete ich Fliegen. Die elektrische Patsche in der einen Hand, die analoge in der anderen. Wo die eine nicht hinreichte, mußte die andere eingesetzt werden. Ich richtete ein regelrechtes Massaker an und kam mir vor wie Heinrich Sewerloh. Der feuerte einen Gurt nach dem anderen in Richtung Feind, während der Lauf gewechselt wurde, verteilte er mit dem Karabiner Kopfschüsse, und doch schaffte er es nicht, die Landung der Amerikaner in Omaha Beach zu verhindern. In meinem Fall eroberten ebenfalls die Fliegen den Innenraum beider Autos.

Ich ging zweimal zu den Polizisten und fragte, was denn nun Sache sei, ob sie denn Hilfe brauchen. Oder ob wir alleine Fahren können. Die Grenze macht nämlich um zwei Uhr zu. Aber vergiß es. Keiner kann Englisch, kaum einer kann überhaupt irgendeine relevante Sprache in diesem Land. Und da es weltweit nun mal so ist, daß nicht gerade die gebildetsten Leute zur Polizei gehen, wird sich das auch bei der Polizei als letztes ändern. Ich ging nochmal mit Almut hin und sie versuchte ihnen zu erklären, daß die Grenze um zwei Uhr zumache und es bis zur Grenze noch ein Stück sei. Aber sie meinten, die Grenze würde nicht schließen.

Erst nach eins ging es los. Ein Soldat nahm auf unseren Beifahrersitz platz und wir fuhren los. In den ersten Kilometern war ich damit beschäftigt, Fliegen zu töten oder auszuweisen. Irgendwann war dann das Verhältnis Luft:Fliegen erträglich geworden. Drecksviecher. Wir fuhren etwa 30 km, dann gab mir der Soldat Anweisungen nach Links von der Straße abzufahren. Weiter ging es auf einer Piste bis zu einer Kaserne. Er stieg aus, wir blieben im Auto. Nach einer Weile kam ein anderer Soldat, der den anderen ersetzen sollte. Das mit dem Grenzübergang konnten wir heute wohl vergessen. Es war schon nach zwei. Dennoch fuhren wir weiter.

Als wir an der Grenze ankamen, war das Tor geschlossen, eine Kette davor und alles still. Der Soldat schaute etwas bedröppelt drein, stieg dann aus und versuchte das Tor zu öffnen. Irgendwann kam auch ein Nachthemdträger an, der uns wieder wegschickte. Morgen um neun. Ach, was für eine Überraschung. Es war ja auch erst 15:20 Uhr... Zum Glück hatten wir noch einen Tag übrig auf dem Visum, denn sonst wäre genau hier das gleiche Theater losgegangen wie letztes Mal. Die hätten von mir verlangt, Strafe zu zahlen wegen der überziehung des Aufenthaltes und ich hätte darauf bestanden, daß die Polizei durch ihre ständige Verzögerung unseres Vormarsches dafür verantwortlich sei und folglich die Kosten gefälligst selbst zu tragen habe. Das kann sich dann schon einige Tage hinziehen.

Natürlich war die Grenze geschlossen. "Nun guck doch nicht so blöd!"

Der Soldat stieg ein, sagte dann "Mir Javeh" und ich fuhr los. Ich fragte in Zeichensprache, ob wir nicht einfach hier an der Grenze schlafen könnten. "No, Mir Javeh, Hotel!" "No Hotel, Desert, hier!", sagte ich und deutete ins Gelände. "Nooo! Danger!", sagte er ganz entsetzt. "Danger?", fragte ich, als wüßte ich nicht, was er meinte. "Abdul Malik! Danger!" Abdul Malik ist wohl ein Name oder sowas. Vielleicht ein örtlicher Gangsterboss, vielleicht ein Rebellenführer, vielleicht auch nur eine fiktive Figur, oder eine Bezeichnung für einen bestimmten Feind, so wie man den Vietcong auch "Charlie" nannte, den Engländer "Tommy" oder die Fritzen "Jerry". Das konnte ich nicht herausfinden, jedenfalls war Abdul Malik da in den Bergen und scheinbar sehr gefährlich. Diese Berge... Arg zerklüftet und man bekommt ansatzweise eine Idee davon, wie aussichtslos es sein muß, einen Feind zu bekämpfen, der sich in so einem Gelände verschanzt, geschweige denn einen, der da lebt, also, der da aufgewachsen ist und der da wohnt. Da kann man keine Posten aufstellen, man kommt da auch mit Fahrzeugen gar nicht hin. Das Gelände alleine macht einen wohl schon fertig genug, da braucht es nicht noch das Bewußtsein, daß hinter jeder Ecke ein Turbanträger lauern kann, dessen Absichten sicherlich mit den eigenen schwer vereinbar sind. Und der Iran ist für die Leute natürlich attraktiv, denn hier sind sie sicher vor den Luftangriffen der Anglo-Amerikaner. Die haben nördlich der Grenze genug zu tun, die werden nicht noch den Iran angreifen. Und wenn auch Pakistan nur offiziell die Drohnenangriffe auf das eigene Gebiet verurteilt, im Iran sähe das gewiß anders aus. Das iranische Grenzgebiet ist also als Erholungsgebiet für Afghanen attraktiver geworden als das pakistanische. Hinzu kommen noch die Drogenschmuggler.

Wir fuhren nach Mir Javeh zurück, über einen Bahnübergang, rechts ab ins Dorf. Wir kamen an einer Mauer vorbei, auf der mehrere Leute saßen, von denen wiederum einer, als er uns sah, anfing Knackgeräusche auszustoßen und gesten des Aufhängens zu machen. Diese Halbstarken sind mir die liebsten. Ich sah zum Polizisten. Er grinste nur. Mir fiel jedoch bald auf, daß der G im Rückspiegel wieder mal fehlte. Ich hielt an und der Soldat meinte, ich solle weiterfahren. Ich zeigte nach hinten, da erst merkte er, daß die anderen fehlten. Den ganzen Weg zurück und statt links zum Bahnübergang zu fahren, fuhren wir rechts. Da standen dann die anderen und warteten. Dann ging es wieder den ganzen Weg zurück, dorthin, wo wir bemerkt hatten, daß die anderen fehlten. Wenn man dem GPS glauben durfte, hätten wir die gleiche Stelle auch erreicht, wenn wir einfach geradeaus weitergefahren wären. Aber da keiner wußte, wo es hingehen sollte, war es letztlich auch egal wie wir wo lang fuhren. Wir standen dann vor einer Kaserne, unsere "Eskorte" unterhielt sich mit dem Posten, dann kam ein weiterer hinzu. Die wußten wohl nichts mit uns anzufangen. Und wir nicht mir ihnen. Immerhin war es ausschließlich ihrer Unfähigkeit zu verdanken, daß wir überhaupt hier waren. Normalerweise wären wir um diese Uhrzeit mit der Grenzprozedur durchgewesen und bereits in Pakistan. Also sollen die mal zusehen, wo sie und unterkriegen. Meinetwegen auf dem Kasernengelände. Wir standen draußen herum und unterhielten uns.

Arnie bei Kletterübungen am Gepäckträger.

Es kamen auch ab und zu Passanten vorbei und starrten uns an. "Wie die Pop-ups in Afrika", sagte Didi, "kannst Dich noch erinnern?" Pop-up nennt man diese Neger, die plötzlich und unvermittelt irgendwo mitten im Nirgendwo auftauchen. Sie kommen überall da vor, wo man anhält in der Meinung, hier sei niemand. Also, mitten auf einer Straße durch den Dschungel, zum Beispiel. Man steigt aus, um an den Straßenrand zu pissen und plötzlich "Pop" - ein Neger. "Popop" - und da! Noch zwei. Hier waren es halt keine Neger sondern Pakis. Die kommen von irgendwoher, setzen sich in der Hocke auf irgendwas, was gerade dasteht, in diesem Falle war es ein großer Blumenkasten. Sitzen da, wie die Affen auf der Leiter und gaffen. Wenn sich nun der erste die Augen zuhält, der zweite die Ohnren und der dritte die Gosch, dann muß man sie nur noch grau ansprühen und Mir Javeh hat ein neues Monument. Sie betteln nicht, sie fragen nicht, sie labern einen nicht voll, wollen einem nichts verkaufen, sondern sie sitzen nur da und gaffen, etwa so, wie man in einen Fernseher gafft, wenn gerade ein interessantes Pogrom gezeigt wird.

Diese monumentale Idylle wurde jäh gestört durch das Geräusch, das entsteht, wenn sich quietschende Reifen nähern. Ein Toyota Hilux brach in Schlangenlinien auf uns zu, an uns vorbei - immer wieder quietschten die Reifen, wie in amerikanischen Filmen. Er sah ziemlich zerbeult aus und es gab keine Scheibe, die noch heil war. Das sah nicht gut aus. Dann blieb er genau vor dem Kasernentor stehen, ein Typ stieg aus und fing an irgendwas zu den Polizisten zu brüllen. "Weg hier", stellten Didi und ich zeitgleich fest und begaben uns in die Autos. "Wart, ich muß noch schnell...", Almut schien irgendwas sagen zu wollen. "Du steigst jetzt in das scheiß Auto", stellte ich einigermaßen genervt fest. Sie stieg ein, auch unser Begleiter, kam ans Auto gerannt - wir hätten ihn ohne zu Zögern stehengelassen. Dann fuhren wir über die Straße und über einen kleinen Feldweg zu einem Gebäude, das wir schnell als ITTIC identifizierten.

Wir stellten uns in den Hof. Auf die Zimmer waren wir nicht scharf und angesichts der Polizeipräsenz war es auch kein Problem. Wir hatten kaum mehr Geld dabei, nur noch das Wechselgeld der Indienvisa, und das war nicht viel. Schließlich war das hier ja so nicht geplant. Wir sollten eigentlich schon das Land verlassen haben. Dank der Polizei haben wir es nicht verlassen. Und hier in diesem Kaff war es nicht sehr wahrscheinlich, daß es eine Wechselstube gab, geschweige denn, daß sie offen hatte. Sie mußten also mit dem Preis schon sehr stark hinuntergehen. Wir können ja auch in der Wüste draußen übernachten, aber das würde uns die Polizei nicht erlauben. Das ist eine schöne Verhandlungsbasis, bei der man eigentlich nur gewinnen kann. Entweder wir übernachten hier oder auf dem Kasernenhof. Kasernenhof wäre mir fast lieber, weil da nicht jeder Depp reinlatschen kann. Darüberhinaus waren wir hier genau Wand an Wand mit einer Moschee. Eigentlich war es noch gar keine Moschee, sondern nur eine Baustelle, aber eine Baustelle, an der ungelogen mindestens zwei Duzend Lautsprecher angepfriemelt waren. Und die plärrten nun ohne Vorwarnung volle Kanne los. Der Kleine wußte gar nicht, was gerade geschah und klammerte sich ängstlich an die Mutter. Didi und ich zogen die Kameras hervor und Heike kicherte vor sich hin - das ist vermutlich das Schlaueste, was man angesichts eines solchen Spektakels machen kann. Das klingt selbst für iranische Verhältnisse furchteinflößend!

Muezinterror war angesagt.

Von wegen "verschlafenes Nest" - Schlaf ist das letzte, woran man hier denken kann. Und kaum war diese Moschee hier verstummt legte die nächste los, die gefühlt höchstens drei Meter weiter entfernt stand. Da huldigen sie Gott, aber um die Wette, den es droben in Himmelshöhen schon längst vom Thron gefetzt haben muß durch diesen Overkill. Und es hörte nicht auf, es ging weiter, reihum. Aber dadurch, daß die Moscheen weiter wegstanden, nahm die Lautstärke ab. Etwa eine halbe Stunde später wurde es dann allerdings wieder lauter und bald war unser Plärrturm wieder an der Reihe. Immer sollen die Leute zum Gebet kommen, aber wie soll man sich das vorstellen? Die kommen doch gar nicht zum Beten, denn kaum haben sie den Kopf zweimal auf den Boden geschlagen, plärrt schon der nächste Trottel zwei Straßen weiter und sie müssen wieder los und dort beten, oder wie?

Also, in diesem Teil des Irans hat sich noch keiner für die Regierung entschuldigt. Und alle Leute, die wir trafen, waren irgendwie mißmutig und einfach scheiße drauf - außer Polizisten. Kennt man aus Deutschland ja nicht, denn da ist es immer umgekehrt. Aber hier sind Polizisten immer uniformiert, das erleichtert einiges, auch wenn sie sicher nicht dadurch sympathischer werden, daß ihre Autos weiß sind und einen grünen Streifen tragen.

Wir kochten Abendessen. Ich schnibbelte wieder irgendwelches Gemüse und schnitt mir dabei in den Daumen. So eine große Abenteuerreise übersteht man nun mal nicht ohne größere Blessuren... Wie sind wir nur in diesem Kaff gelandet? Bullen... Aber hier konnte man es noch sportlich nehmen. War schon in Ordnung. Wenn es wirklich drauf ankommen sollte, gewinnen wir. Davon war ich überzeugt. Auch das kennt man als Deutscher nicht. Natürlich hat man hier den Touristenbonus. Die können es sich einfach nicht leisten, uns ernsthaft blödzukommen. Wenn ich also behaupte, ich fühle mich im Iran sowohl sicherer als auch freier als in Deutschland, so ist das keinesfalls übertrieben. Es ist so. In Deutschland gibt ess keinen Touristenbonus für mich. Dort ist das, was die Exekutive - also der Drecksbulle - behauptet Tatbestand, und danach wird geurteilt. Ob es den Tatsachen entspricht, oder ob er es nur behauptet, weil ich seine Alte flachgelegt habe, das spielt keine Rolle. In Deutschland haben wir eine Gewaltenteilung, und da ist noch der Richter dazwischengeschaltet. Am Endzustand ändert das juristisch einiges, tatsächlich aber überhaupt nichts, denn ob man in einem Bunker hockt, weil es der Bulle sagt fühlt sich genauso an, als wenn man in einem Bunker hockt, weil es der Richter sagt.

Als ich nach dem Abspülen wieder hinauskam lief ich an einem "Zombie" vorbei. Ein Typ im grauen Bubu, der ein Auge am Backenknochen hatte, das andere an der Stirn. Ich grüßte ihn, aber er lief einfach wie Ferngesteuert weiter. Wir räumten das Geschirr in die entsprechende Box, dann setzten wir uns an den Tisch. Die Moschee legte wieder los, kurz darauf sah ich hinter mir einen Schatten vorbeihuschen. Es war Almut, die zum Zelt eilte. Kurz darauf hörte ich schon Arnie losbrüllen. Es war Donnerstag, was dem Samstag entspricht, und alle waren mit ihren Familien hier um zu grillen. "Man spürt hier schon eine grundaggressive Stimmung", meinte Didi. Der Zombie hätte ihn kurz zuvor gerammt. Der Typ war wirklich etwas seltsam. Ab und an kam ein LandCruiser mit Polizisten angefahren, die irgendwelches Essen abholten, das sie zuvor bestellt hatten. Aber diesen Zombie behielten wir im Auge, nach der Devise "Don't tread on me". Ich glaube, er hat es auch irgendwie begriffen, denn er zog sich in andere Bereiche zurück. Hingegen kam eine persische Familie mit ihren Kindern vorbei und stellte sich vor, sie fragten, ob sie irgendwas für uns tun könnten und gingen wieder, als wir beteuerten, alles dabeizuhaben, was für unser Wohlbefinden wichtig war. Die sahen auch wieder ganz normal aus. Kopftuch auf halb acht, der Mann westlich gekleidet, die Kinder konnten einige Brocken Englisch. So kennt man die Perser. Was sonst da war, verkörpert genau das, was die westliche Propaganda unter "Iran" verkauft. Das Zeug hat mit dem Iran an sich überhaupt nichts zu tun.

"Die tun uns schon nichts", bemerkte Didi. Natürlich nicht. Man hat hier immer noch das unsichtbare Schutzschild des Touristen. Es wiegt nichts, aber man kann sich sicher sein, daß mehr Leute auf einen aufpassen, als man denkt. Keiner hat ein Interesse daran, daß uns hier etwas zustößt. Als erstes sie Regierung nicht. Die kann Schlagzeilen auch heute noch überhaupt nicht gebrauchen, genausowenig wie 2006. Die Bevölkerung - zumindest die große Mehrheit - auch nicht. Die ist eher bestrebt, nicht mit der Regierung in einen Topf geworfen zu werden. Höchstens irgendwelche dämlichen Gläubigen. Man nennt sie bei uns Extremisten, aber ich bin der Meinung, daß die genauso dämlich sind wie gläubige Christen. Endet beides auf "isten" und der Grad der Dämlichkeit ist nicht sehr unterschiedlich. Christen würden niemanden entführen oder töten, aber das sind nur die Auswirkungen. Der Glaube an sich ist das Problem. "Glauben" heißt "nicht wissen". Auf der anderen Seite sind dann aber noch die Leute, die das Business hier rennen, nämlich die Opiumschmuggler. Das sind unsere Freunde, denn geschädigte Touristen sind das Letzte, was die hier wollen. Dann wimmelt es hier nur so von auswärtigen Bullen, die nicht von ihnen kontrolliert werden, und das kostet sie Geld. Bad for business. Wenn also was passiert, dann, daß irgendein durchgeknallter Idiot eine Aktion startet - was aber überall in Europa eher passieren kann. Dagegen kann niemand was machen. Aber diesem Risiko kann man auch nicht entgehen, wenn man ganz brav in London bleibt und einfach mal am Wochenende weggeht, insofern ist es kein "erhöhtes Risiko" in dem Sinn. Es hört sich nur an als wäre es ein erhöhtes Risiko, weil die Leute, die das behaupten, nie hier waren und nie hier sein werden. Auch nicht Zeitungskorrespondenten, die sich ein paar Tage hier aufhalten, ringsum abgesichert, und die über irgendetwas berichten. Die müssen ja über etwas Interessantes berichten. Wenn die nur schreiben würden, daß ein bärtiger Mann an der Straßenecke seinen Reis verkauft, wären sie ihren Job ganz schnell los.

Wir bestellten an der Rezeption die Polizei für 7:30 Uhr, wohlwissend, daß die Grenze erst viel später aufmacht. Mittlerweile hatte ich ja weniger Schwierigkeiten damit, alle Mitfahrer davon zu überzeugen, daß die Polizei unpünktlich, wenn überhaupt kommt. Aber wir waren auch entschlossen, ohne Polizei loszufahren. Wir wollten an der Grenze sein wenn sie aufmachte. Morgen war unser letzter Tag. Ich tippte noch meinen Bericht zu Ende, schnappte mir mein Messer und ging dann ins Zelt. Einschlafen war eher problematisch, denn dauernd wanderten Leute umher und gafften in das Zelt hinein. Erst als die Lichter des Innenhofs ausgingen und der Lärm allmählich nachließ schlief ich ein.


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© by Markus Besold