< Oktober 2010 > | ||||||
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Keine Anschläge, keine Schießereien, nichts. Ich glaube, die schlafen nachts alle und haben keine Zeit für Anschläge. Almut war schon weg, als ich aufwachte, deshalb wachte ich auch von selber auf und ging unter die Dusche. Es gab warmes Wasser - nicht selbstverständlich. Die Sonne schien, und ich ging fröhlich und gutgelaunt hinunter zum Auto, eine lustige Melodie grölend: "...Fühl in des Thrones Glanz, die hohe Wonne ganz, Liebling des Volks zu sein, Heil, Kaiser, Dir!" Didi sagte daraufhin: "Also, mir gefällst Du schlechtgelaunt besser in der Früh..." Na, dann eben nicht. Man kann es den Leuten nie recht machen, das weiß ich ja schon seit Jahren. Ich verstaute meine Tasche im Auto, heilfroh, daß das Zelt und die Schlafsäcke heute nicht eingepackt werden mußten und ging dann wieder hinauf aufs Zimmer - "Nicht Roß, nicht Reisige... Achso... Ja..."
Nun hatte es endlich mit dem Geldwechseln geklappt, und die Bank, zu der sie gestern geschickt wurden, die dann geschlossen war, die hätte auch offen nichts geholfen, weil die dort kein Geld wechseln. Stattdessen mußten sie irgendwie zu einer Bank in der Nähe des Hotel Serena. "Serena", übersetzt wohl "Meerjungfrau", so heißt hier die Hotelkette, die neben dem Marriot für angemessene Schlafmöglichkeiten für die Elite zuständig ist. So eines soll es auch in Islamabad geben und das Frühstück dort soll vorzüglich sein. Islamabad schien so weit, als wäre es auf einem anderen Planeten. Der Tuk-Tuk-Fahrer muß witzig gewesen sein. Er hatte Almut und Heike wohl für Amerikanerinnen gehalten und wollte gar kein Geld annehmen. Amerika sei das beste Land der Welt und sein Traum war es, nach Amerika zu gehen. Sie konnten ihn nur bezahlen indem sie beteuerten, Deutsche zu sein. Dieser einfache Mensch hatte begriffen, was Didi in hundert Jahren nicht kapieren wird: America is the best and fuck the rest! Didi wäre, bei dem, was er draufhat, längst schon Millionär, wäre er vor einigen Jahren nach Amerika gegangen. Der würde vielleicht tauchfähige Straßenautos für die Reichen basteln, mit denen sie am Wochenende in Malibu an den Strand fahren würden, oder Raumschiffe, oder sonstwas. Er hätte dort alle Möglichkeiten, die ihm in Deutschland durch eine irrsinnige Gesetzgebung verwehrt bleiben - wie schon so vielen vor ihm. Es zeigt sich wieder einmal, daß sich die meisten Leute dort am wohlsten fühlen, wo sie großgeworden sind, weil es ihr Zuhause ist.
Die Polizei kam an und fragte, wo wir denn hinwollten. Wir gaben an "Lahore". Es gibt zwei Straßen bis Multan, allerdings sei die nördliche ohnehin gesperrt, insofern bleibt die Auswahl über die zu nehmende Route recht überschaubar. Wir fuhren los, zwei Motorräder mit jeweils zwei Mann fuhren uns voraus. Der Verkehr war erträglich, ein tiefer Frieden lag über der Stadt. Ich hatte nicht viel mitbekommen davon, da ich ja im Hotel geblieben war und fragte nach, ob irgendwas Besonderes aufgefallen sei, abgesehen von diesem Tuk-Tuk-Fahrer. Nichts, alles gut, die Leute sehr nett und hilfsbereit, keine Spur von irgendeiner Bedrohung. Ist wohl alles nur subjektiv. Und die Leute, die solche Reisewarnungen herausgeben, sind uns "bekannt, verhaßt genug". Also ob die hinter ihrem Panzerglas hervorkriechen würden, um sich hier umzusehen, um akkurate Informationen weiterzugeben. Das glaubt wirklich nur der Deutsche Michel, weil es ihm von klein auf anerzogen wird, daß alles, was vom Staat kommt, seine Richtigkeit hat und, daß man es nicht zu hinterfragen hat. Hier in Belutschistan wir vermutlich irgendetwas vorgefallen sein, und irgendein Affe hat daraufhin das hier kategorisch zum Gefahrengebiet erklärt. Was nun genau vorgefallen ist, wenn überhaupt etwas vorgefallen ist, entzog sich unserer Kenntnis. Wahrscheinlich ist irgendeinem Touristen in einem Marktstand eine Zwiebel auf den Kopf gefallen. Wenn man sich auf der Seite des Auswärtigen Amtes umsieht, dann findet man vermutlich zweihundert Seiten zu Belutschistan, und zu Rio nur ein paar Zeilen. Allein dadurch merkt man schon, daß diese Phantastereien mit der Realität wenig zu tun haben können. Was mich nur wundert ist, daß in Amerika jährlich ungefähr hundertmal mehr Touristen zu Schaden kommen als in Belutschistan in zehn Jahren, aber daß sich diese kleinen Beamtenschweine erdreisten, einem vorzuschreiben, wo man hinfahren darf und wo nicht. Haben übrigens nicht umgekehrt die USA und England erst eine Reisewarnung für Deutschland herausgegeben? Zu Recht herausgegeben, wie ich meine. Die Behindertenkonzentration ist dort zu hoch, als daß man sich noch sicher fühlen könnte. "Only two things are infinite: the universe and hugerman stupidity, and I'm not sure about the former." - Alber Einstein.
Wir fuhren gegen Elf los. Es war ein sonniger Tag, keine Wolke am Himmel, wenig Verkehr. Die Polizei fuhr voran. Ein Motorrad pro Auto, zwei Mann pro Motorrad, der eine fährt das Motorrad, der andere die kalaschnikow spazieren. Am Stadtausgang angekommen entließ uns die Eskorte. In einer langgezogenen linkskurve hörte ich ein seltsames Geräusch, erst am Dach, dann rechts neben dem Auto. Ich fuhr ein paar Meter weiter in eine Tankstelle und überlegte, was das wohl gewesen sein könnte. Mitten in meine Überlegungen platzte der Tankwart mit der Frage, ob ich Diesel wollte. "Was? Ja! Mach voll." Aber nun kam ich auch drauf, was es war. Meine Cola, die ich auf den Sandblechen abgestellt hatte. Während das Auto also vollgetankt wurde, stiefelte ich zurück, um die Dose aufzuheben. Von weitem sah ich sie schon. War scheinbar in eine Pfütze gefallen. Als ich mich hinunterbeugte, um sie aufzuheben spürte ich einen kalten Strahl quer über mein Gesicht wandern. Durch einen kleinen Riß spritzte ein unsichtbarer Cola-Strahl meterweit in meine Richtung. Das Zeug klebt und weit und breit keine Dusche. Mit den Worten "fuck it", griff ich die Dose, öffnete sie und stürzte den restlichen Inhalt hinunter. Problem erledigt. Beschweren konnte ich mich schlecht. Man hatte mich ja vor Belutschistan gewarnt... Als ich zurück am Auto war, war der Tank voll und der Tankwart wollte bloß noch sein Geld. Der Liter kostete etwa 70 Rupees, umgerechnet etwa 60 Cent. Verglichen mit dem Iran der reinste Wucher. Wir fuhren weiter aus der Stadt hinaus. Irgendwo wollten wir noch anhalten, um Verpflegung zu besorgen, aber besser in einem Vorort, wo weniger Verkehr und mehr Läden an der Straße waren.
Nach einer Weile, aber, mußten wir feststellen, daß der Verkehr nicht weniger wurde. Lediglich die Straße wurde enger, was bei gleichbleibendem Verkehr automatisch ein größeres Gedränge bedeutet. Irgendwo hielten wir aber dennoch, soweit links wie möglich. Ich stieg aus, und bei den anderen stieg Heike aus. Eigentlich wäre es nun sinnvoll gewesen, Heike im Auto zu lassen. Aber so gingen Heike und ich eben los zum Einkaufen. Viel Zeit konnten wir uns nicht lassen, denn je länger wir irgendwo standen, desto mehr Menschen drängten sich um uns. Wir fanden zwar schnell Vorräte, also Gemüse und so Zeug, aber etwas zum Gleichessen war schon komplizierter. Irgendwann sagte Heike: "Wir sollten langsam gehen, weil der Didi isch scho wieder belagert..." Ich drehte mich um und sah vom G nur noch das Dach. Der Blaue hingegen war in voller Pracht zu sehen. Dort standen nur ein paar Leute in respektvollem Abstand. Almuts Plan war gut. Frauen bei den Auto lassen, dann hat man das Problem nicht. Auf den Trick kommt man entweder, wenn man mit dem kulturellen Hintergrund in islamischen Ländern vertraut ist, oder man lernt es durch Erfahrung. Diese Szene trug zu letzterem bei. Heike kämpfte sich durch die Meute, ich stieg ein und wir fuhren los. Immer schön weiter der Straße nach.
Die Dörferdichte nahm ab und wir befanden uns auf freier Landstraße und nun, dachte ich, würden wir die Diesel laufen lassen, bis zum nächsten Halteplatz, der vom Sonnenlicht oder vom nächsten Posten bestimmt wird. Doch wir waren noch gar nicht wirklich in Schwund, da gab Didi Lichthupe. Der macht das nicht einfach zum Spaß, also muß schon wieder irgendwas sein. Ich hielt an und ging zurück. "Wir fahren falsch", sagte er, "Wir fahren ständig nach Norden, dabei müssen wir nach Nordosten. Wenn wir hier weiterfahren kommen wir zur Afghanischen Grenze." "Cooler Trick", meinte Heike grinsend, "aber hat diesmal leider nicht geklappt." Typischer Besold-Trick: Alle merken's, nur ich selbst nicht. Also wieder umdrehen...
Wieder fanden wir uns in dem Dorf, in dem wir angehalten hatte, nur, daß diesmal eine Straße zur Linken war. Eine Riesenkreuzung, die wir nur nicht bemerkt hatten, weil diese nicht aussah wie eine Kreuzung, sondern wie ein Großmarkt. Es ging auch nur im Schrittempo voran. "Haben wir ein Brot?", fragte ich Almut. Auf die negative Antwort hin gestikulierte ich einen kleinen Jungen herbei, der draußen mit einem Brotkorb unterwegs war, gab ihm zehn Rupees und nahm ihm ein paar Brotflatschen ab. Diese Händler sind sehr praktisch, wenn man gerade etwas braucht. Man spart sich das Anhalten und Aussteigen und man wird nicht ständig belagert. Der Nachteil besteht ihrer nichtswtatischen Natur. Man muß halt hoffen, daß gerade der Richtige vorbeikommt. Jetzt bräuchten wir einen, der Cola verkauft, und wenn es die hier auch noch in Gemüse-Variante gibt, dann können wir uns in Zukunft solche gehetzten Einkäufe wie vorhin ganz sparen. Vielleicht gibt es die ja. Mal sehen.
Etwa zehn Minuten später hatten wir uns aus diesem Nadelöhr wieder gelöst und konnten etwas schneller fahren. Noch nicht zu schnell, denn das straßenbauliche Konzept war eher zweifelhafter Natur. Man kann es so ausdrücken: Die Schlaglochpiste wurde nur durch Geschwindigkeitsbrecher unterbrochen. Wir kamen an einer Schule vorbei, davor stolperten einige in dunkelblaue Uniformen gezwängten Halbwüchsigen, die irgendwas in unsere Richtung grölten, als wir vorbeifuhren. Ich wertete das als einen Versuch, uns auf das katastrophale Bildungssystem in diesem Land anschaulich vorzuführen.
Wir kamen aus dem Dorf hinaus und konnten etwas Fahrt aufnehmen. Die Straße war nicht mehr so schlecht, obgleich sie auch schmal blieb, mit häßlichen Abbruchkanten links und rechts. Aber der Verkehr hielt sich in Grenzen und bestand hauptsächlich aus LKW. Diese seltsamen, uralten LKW, die teilweise mit Holzkabinen ausgestattet sind. Wahrscheinlich sind die Führerhäuser schon vor Jahrzehnten weggerostet. Wir wunderten uns darüber, daß man uns ganz alleine ziehen ließ. Kein Posten hielt uns auf, kein polizist wurde uns zugewiesen. So komme ich doch nie an meine Kalaschnikow...
Wir fuhren erneut durch ein Dorf, in dem wir anhielten, um Eier zu kaufen. Hier gab es nur wenig Leute, aber alle Läden hatten offen. Auch gab es kaum "Pop-ups". Irgendwas schien nicht zu stimmen. Lediglich ein Auto hielt an mit vier Jugendlichen darinnen. Die begrüßten uns und erzählten, daß sie unterwegs zu einem Fußballspiel seien. Das erklärt nun einiges. Wahrscheinlich hatten sich alle Dorfbewohner um die wenigen Fernsehgeräte versammelt und hatten keine Zeit, unsere Autos zu belagern. In dem Fall war es also ganz gut, daß das Sprichwort "Fußball verbindet" nicht griff. Wir fuhren auch weiter über die Straße, die seit ein paar Kilometern aus Schotter bestand. Asphalt und Schotter wechselten sich auch einige Male ab, bis sich der Asphalt wieder durchsetzte. Es blieb nicht aus, daß wir uns trotz GPS-Geräte erneut verfuhren. Bei de hatten wir Garmin-Geräte, doch wir hatten unterschiedliches Kartenmaterial. Didi hatte seine Karten für die gesamte Gegend von Europa bis indien einem Open-Source-Server. Ich hatte die Karte für die Türkei bei Garmin und für den Iran bei www.mapshop.me gekauft. Beide waren naturgemäß besser als die Open-Source-Mappen, denn auch hier gilt: You get what you pay for. Unsere Pakistan-Karten waren allerdings ebenfalls Open-Source. Die hatten den Nachteil, daß sie nicht "routable" waren, man konnte also keine Adresse eingeben. Entweder man gibt einen Point of Interest ein, oder man markiert eine Stelle auf der Karte und läßt sich zu ihr hinführen. Hier in diesem Dorf hatten wir das Problem, daß auf den Navis eine durchgehende Straße angezeigt wurde, wo in Wirklichkeit eine Kreuzung war. Wir mußten also umdrehen und zu der Stelle zurück, wo die Straße zuletzt gezeigt wurde. Aber das klappte auch recht gut, abgesehen von einem kleinen Rempler. Ein LKW stand geparkt am Straßenrand und die Besatzung setzte irgendwas instand. Statt am LKW rechts auf der Straße vorbeizufahren, zog ich es vor, lieber den sicheren Weg über die Böschung zu nehmen. Es war eine Art Hohlweg, so daß der Straßengraben nicht von der Straße abfallend war, sondern anstieg. Durch den bescheuerten Linksverkehr konnte ich natürlich nicht sehen, ob Gegenverkehr kam. Didi hatte noch genug Abstand, und sah, daß frei war, überholte also auf der Straße. Ich hatte das Ausweichmanöver aber bereits eingeleitet und fuhr die Böschung hinauf, zwar etwas knapp am LKW vorbei, aber es hätte nichts gemacht, wenn nicht am Gepäckträger eine Ecke abstehen würde. Genau mit der blieb ich an der Stoßstange des LKW hängen. Fuck! Über sowas kann ich mich ja maßlos aufregen. Was steht auch diese scheiß Kalesche völlig unbeleuchtet am hellichten Tag auf der Straße rum? Jetzt ist der Träger verbogen...
Als nächstes fehlte ein Stück von der Straße und wir mußten zwangsläufig seitlich hinunter und durch eine Mulde, die, die ich sofort sah, aus Weichsand bestand. Da muß man gasgeben, und das tat ich auch. Leider muß unter dem Weichsand ein größerer Brocken verborgen gewesen sein, denn als nächstes hörte und spürte man einen heftigen Schlag am Unterboden. Nicht direkt am Unterboden denn der Wagen federte dennoch und blieb nicht abrupt in der Abwärtsbewegung stehen. Es mußte etwas anderes getroffen worden sein. Scheiß Spiel! Ich fuhr an der nächsten raus und sah nach. Ich hatte den hinteren linke Achsschenkel im Verdacht. Die Tankwarte amüsierten sich wohl über den dämlichen Ausländer, der auf Bauch und Rücken am ölverschmierten Boden umeinanderkroch. Und tatsächlich fand ich auch eine Dulle. So ein Rotz. Ich bin einfach außer Form...
Aber da kann man jetzt eben nichts machen. Show must go on, also einsteigen und weiterfahren. Die Federn hatten mittlerweile auch etwas unter dem gewicht nachgegeben, die Bodenfreiheit hatte merklich abgenommen seit Europa. Die besten Federn helfen nichts, man muß sie einfach strecken lassen. So, wie die Marokkaner das machen. Doch Marokko war sehr weit weg...
Wir kamen noch öfter an stellen vorbei, an denen die Straße fehlte, manchmal fehlte auch eine Brücke. Aber hier war doch die Flut gar nicht hergekommen. Ich nahm fortan die Weichsandpassagen etwas vorsichtiger. Das läßt sich oft machen, indem man die Spuren vorangsfahrener Autos scannt und sich an die hält. Kritisch wird es immer dort, wo keine Spuren zu sehen sind, sondern wo lediglich rillen im Sand darauf hindeuten, daß an der Stelle mal ein Auto gefahren sein könnte. da weiß man nie, was daunter ist. Doch wir blieben von solch heimtückischen Anschlägen für den Rest des Tages verschont.
Recht viel weiter als bis nach Lorelei würde wir es heute wohl nicht schaffen. Dort soll es auch eine Art Guesthouse geben. Almut war damit beschäftigt, dieses herauszusuchen. Die Sonne war bereits am Untergehen. In einem Kaff hielten wir an, um uns zu beratschlagen. Wir breiteten die Karte auf der haube aus. Sollten wir weiter, oder hierbleiben? Während wir da so diskutierten, kam ein älterer Mann in einem weißen Nachthemd an, von einem jüngeren begleitet, der noch Tagesklamotten anhatte. Wir fragten den Jüngeren nach dem Weg. Der antwortete, aber der Ältere sagte zu uns, wir sollen zurück nach Quetta. Hat irgendjemand die Null gewählt, daß der sich meldet? Ich fragte ihn nach dem Weg zum Guesthouse, er erklärte es zwar, fragte aber, ob wir eine NOC hatten. Kein Ahnung, was das ist. "No-Objection-Certificate, ohne das kannst Du nicht weiter. Mußt Du in Quetta holen", sagte er energisch. "Jaja, paßt schon. Depp!" "Ich Polizeichef von Lorelei, keine NOC, keine Durchfahrt. Verstehen?" "Jaja, ist schon recht... Und ich bin der Kaiser von China. Komm, fahren wir", sagte ich zu Didi. Wir fuhren zurück, in die Richtung, aus der wir gekommen waren, bogen dann rechts ab und fuhren weiter in das Dorf hinein. Durch den immer dichter werdenden Verkehr wurde es deutlich, daß wir uns dem Dorfkern näherten. Wir fragten uns durch nach dem Guesthouse. Man schickte uns erst in die eine Richtung, dann in die andere. Irgendwann standen wir in einem Stau, der durch türkische Hilflaster verursacht wurde, die an einer Kurve mir spitzem Winkel abbiegen mußten. Dazu mußten sie mehrmals zurücksetzen, was allerdings dadurch erschwert wurde, daß die Pakistaner einfach da hineinfahren, wo sich eine Lücke auftut - auch wenn sie eigentlich in eine ganz andere Richtung müssen. Recht viel schlauer als die Iraner stellen sie sich beim Autofahren jedenfalls offensichtlich nicht an. Und der Verkehrspolizist, der wohl dazu abgestellt war, den Verkehr zu regeln, der brachte noch mehr Chaos in die Sache, da er von den Verkehrsteilnehmern nur dann beachtet wurde, wenn sein wildes gestikulieren ihnen zum Vorteil gereichte. Es konnte also nur auf einer kreuzungsfreien Straße funktionieren, aber so nicht... Wir schafften es irgendwann, an der Engstelle vorbei, nur um dahinter festzustellen, daß das Dorf aus war und man schickte uns wieder zurück. Und wieder an dieser beschissenen Kreuzung vorbei. Als wir uns zum zweiten Mal durchgekämpft hatten, sahen wir einen uniformierten, der sich uns in den Weg stellte und uns in einen Hof winkte. "Ah! Da! Das Guesthouse!" - und wir fuhren hinein. Auf dem Hof waren hunderte von Menschen. Die meisten standen herum und glotzten, und wir fanden auch bald heraus, was die Attraktion war: Unsere Kameraden von der "Grande Nation" waren auch schon hier. Die waren schon in aller Herrgottsfrühe in Quetta aufgebrochen, und doch nur bis hierher gekommen. Aber sie mußten schon seit einigen Stunden hier gewesen sein. Ich parkte, Didi auf, allerdings rückwärts, denn wir wußten nicht, wie es weitergehen sollte. Im Falle eines schnellen Aufbruchs wollten wir nicht erst umständlich wenden, also parkten wir die Autos - wie immer eigentlic - fluchtbereit. Dann stiegen wir aus, um zu erfahren, was hier überhaupt Sache war. Heike und Almut sprachen Französisch, also gingen sie zu den Franzosen, um Informationen zu beschaffen, während Didi und das gleich bei den Einheimischen taten. Es kam ein kleiner Mann an, der gut Englisch konnte und einen relativ kompetenten Eindruck machte. Er meinte, er würde sich darum kümmern, daß das Problem gelöst würde, und wir morgen früh weiterkonnten. Welches Problem überhaupt? Wir wollen doch nur übernachten. Aber wir fanden sehr schnell heraus, daß das hier nicht das Guesthouse war, sondern die Polizeistation. "Können wir hier übernachten?", fragte ich ihn. Das war für ihn kein Problem. Aber weiterfahren durften wir heute nicht. Das war für uns kein Problem, denn es war ja schon dunkel. Aber warum waren die Franzosen noch hier? Die mußten vor Stunden angekommen sein.
Didi und ich fuhren die Autos auf den Parkplatz und ich stellte das Zelt auf. Es waren nicht nur tausende von Zuschauern da, sondern auf jeden kamen auch noch tausende von Mücken. Ich packte die iranische Fliegenpatsche aus und sie kam aus dem Knistern nicht mehr heraus. Bald roch es nach verschmorten Insekten, aber es kamen immer neue. Dabei versuchte ich gleichzeitig das Zelt aufzustellen. Reißverschluß auf, Mücken vernichten, Zelt rausholen, Mücken vernichten, usw. Ein Polizist hatte die Kinder verscheucht. Wo sind eigentlich solche Leute in Marokko oder in Tunesien, wo die Kinder nerven? Die Kinder hier haben nicht gestört, die haben nur geschaut. Außer "Hello" und "How are you" meldeten sie auch nichts. Sie wollten keine Geschenke, sie bettelten nicht, sie machten Platz, wenn sie sahen, daß ich genau da, wo sie standen, das Zelt aufzubauen vorhatte, sie grabschten nicht alles an, waren nicht laut. Wir waren halt etwas anderes in ihrem Alltag und das machte sie neugierig. Auch keine Spur von Aggressivität oder Ähnlichem. Nichts. Die Kinder wurden erst von Erwachsenen abgelöst, die der Polizist dann auch wieder verscheuchte.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis das Zelt stand, so daß Almut und der Kleine darinnen verschwinden konnten. Heike kam und meinte, wir sollten uns beim Kommandanten einfinden. Wir gehen also zum "Offiziellen Teil des Abends" über. Ich stellte sicher, daß ich alle Pässe hatte, schnappte mir die Fliegenpatsche und ging los. In einem Raum waren einige Leute. Polizisten, Zivilisten, Franzosen, und Heike, Didi und ich. Nun durfte ich erfahren, was das Problem war: Wir hatten keine NOC. Das aber brauchen wir, wenn wir weiterfahren wollen. "Ist ja kein Problem, dann geben sie uns doch ein NOC", sagte ich. Das ginge nicht. Das hätten wir in Quetta besorgen sollen. "Das hätten wir auch getan, wenn man uns das gesagt hätte", erklärte ich. Er sagte es uns ja nun, also sollen wir nach Quetta zurückfahren und uns dort ein NOC besorgen. "Entschuldigen Sie mich", sagte ich höflich, "nach Quetta zurückzufahren ist für uns keine Option und das werden wir auch nicht tun." Hier könnten sie keine NOC ausstellen. "Sehen Sie, wir schreiben das Jahr 2010 - auch hier in Pakistan - es gibt Internet, Telephon und sogar Fax. Es besteht absolut keine Notwendigkeit, und nach Quetta zurückzuschicken. Oder zahlt die Polizei etwa die Kosten? Dann fahren wir auch zurück." "Wieso die Polizei?" "Nun", sagte ich, immer noch sehr höflich, "wir waren in Quetta ständig unter Polizeiaufsicht. Egal, wo wir hinwollten, wir mußten die Polizei informieren. Wenn wir also eine NOC brauchen, hätte die Polizei uns darauf aufmerksam machen müssen. Die hat uns aber nur zum Stadtrand begleitet und wir sind hierhergefahren. Woher soll ich als Tourist wissen, daß ich unbedingt eine NOC brauche? Das hätten sie uns auch an der Grenze sagen können. Es gibt nur eine Straße, und jeder Tourist, der aus dem Iran kommt, braucht also eine NOC, richtig?" Er bejahte. "Also bin ich mir sicher, daß wir eine Lösung finden werden, und zwar ohne nach Quetta zurückzufahren." Er stimmte auch hier zu, meinte aber: "Aber diese Lösung werden wir heute nicht mehr finden. Sie können heute bedauerlicherweise auf gar keinen Fall weiterfahren", sagte er. "Wieso bedauerlicherweise? Wir wollten doch gar nicht heute weiter, wir haben einen Nachtplatz gesucht und Dank Ihrer gastfreundschaft auch gefunden." "Aber Ihre Kollegen wollen unbedingt heute weiter", sagte er, und meinte die Franzosen. "Ach, um von vornherein eines klarzustellen: Wir sind nicht eine Gruppe. Wir hier reisen gemeinsam, die Franzosen sind eine eigene Gruppe", erklärte ich und fügte hinzu: "Wir haben es nicht eilig. Wir sind im Urlaub." Er lachte und meinte: "Aber die Franzosen haben es wohl ziemlich eilig." Ich beugte mich zu ihm hin und sagte: "Nehmen Sie es ihnen nicht übel. Die haben es immer eilig, wenn die Deutschen ihnen auf den Fersen sind..." Gelächter füllte den Raum. Wir bedankten uns und verließen den Raum, um nun zum gemütlichen Teil des Abends überzugehen.
So, nun erstmal das Bier auspacken und ein bißchen entspannen. Die Franzosen hatten ihre Fahrzeuge auch um uns herum geparkt und waren mit Kochen beschäftigt. Zu uns an den Tisch setzte sich ein Paschtune jüngeren Baujahrs. Er sprach leidlich Englisch und war begeistert von Almuts Paschtukenntnissen. "Die Deutschen und die Paschtunen", sagte er mehrmals, "haben gemeinsame Wurzeln. Wir sind wie ihr." Ich konnte natürlich mit meiner Ansicht nicht hinterm Berg halten und widersprach ihm. "Sind sie nicht. Der Amerikaner kam zum Deutschen, eroberte sein Land und sagte zu ihm: 'Von nun an tust Du was ich Dir sage!', der Deutsche nahm Haltung an und sagte 'Jawohl, Herr... Sir!' - dann kam der Amerikaner zum Paschtunen, eroberte sein und sagte: 'Von nun an tust Du, was ich Dir sage!' - der Paschtune spuckte ihm ins Gesicht und tat weiter das, was er schon immer tat."
Ob er den Punkt nun gekriegt hatte oder nicht, konnte ich nicht eindeutig feststellen, aber er betonte immer wieder, daß wir bitte nicht in unsere Länder zurückgehen sollten und erzählen, daß Paschtunen alles Terroristen seien. So wie unser Kind irgendwann mit Autos oder Computern spielen würde, so spielen die Kinder in seinem Dorf mit Waffen. Unser Kind würde irgendwann in eine Schule gehen, wo es Lesen und Schreiben lernt. Die Kinder in seinem Dorf würden nicht auf eine Schule gehen, höchstens auf irgendwas, was sich Schule nennt, und wo sie beigebracht bekommen wer der Feind ist. Sie können nicht lesen, nicht schreiben, doch sie haben ein gutes Gedächtnis. Die wissen nach Generationen noch, wer dem Urgroßvater was angetan hat. Das ist die Gesellschaft, in der sie leben, in der sie großwerden und die sie für richtig erachten. Das gilt eigentlich für alle Menschen gleichermaßen. "Ich bin Pakistaner", sagte er, "aber bevor ich Pakistaner war, war ich Moslem, und bevor ich Moslem war, war ich Paschtune." Das Konzept der Nationen, was sicherlich weitgehend ein europäisches Konzept ist, und das in Europa auch enstand und funktionierte, muß nicht unbedingt hier funktionieren. Man darf nicht vergessen, daß die europäischen Nationen weitgehend Homogen sind. In England lebten Engländer, sprachen Englisch, in Frankreich Franzosen, sprechen Französisch, in Deutschland, Italien, Spanien, überall dort ist es so, und so wurden die Grenzen gezogen. Und selbst dort gibt es Differenzen, aber weitgehend kann man sagen, daß jedes europäische Land einen europäischen Volk zuzuordnen ist - oder zumindest lange war. Nur ist dieses Modell über die Jahrhunderte so gewachsen und läßt sich nicht einfach auf den Rest der Welt überragen. Was dabei rauskommt konnte man gut in Jugoslawien oder in der Tschechoslowakei sehen. Es waren Kunststaaten, von den Siegermächten ins Leben gerufen und nicht von langer Dauer. Pakistans Grenzen wurden von den Engländern gezogen, wie alle Grenzen ehemaliger Kolonien. Ohne Rücksicht auf Ethnien, Stämme, Sprachen, oder sonstwas. Was hat der Paschtune im Nordwesten mit dem Sindhesen im Südosten gemeinsam, außer einem Paß? Abgesehen davon hat er genausviel mit ihm gemein, wie Afghane mit einem Inder - und in Indien tut sich wahrscheinlich die selbe Problematik erneut auf. Das Gebilde Pakistan doch ist an sich schon der Beweis dafür, daß europäische Lösungen nicht funktionieren...
Als der Paschtune gegangen war, machte ich mich daran, das Abendessen zu machen. Es gab Pfannenkuchen. Recht viel mehr kann ich nicht. Als wir alle fertig waren und Heike, Didi und Almut schlafen gingen, packte ich die Fliegenpatsche und zog los, um Mücken zu töten. Ich bringe sie alle um. Alle! Doch nach fast einer Stunde war ich meinem Ziel nicht viel näher gerückt. Es kamen immer neue nach. Irgendwann muß denen doch der Nachschub ausgehen, das gibt's doch nicht! Ich machte weiter, auch nachdem der Strom abgestellt war. Die Fliegenpatsche war mit einem kleinen Flak-Scheinwerfer ausgestattet, das die Viecher weiß hervorhebt. Dieses Featur gefiel mir. Ich machte solange bis irgendeine Stimme aus der Dunkelheit meinte: "I think it's time to go to bed now!" Keine Ahnung, wo die Stimme herkam, aber ich folgte einfach. Hat ja doch keinen Sinn.
Als ich mich hingelegt hatte hörte ich wieder diese totale Stille. Wie in Dalbandi schon. Kein Laut, nicht mal Hundegebell. Die Stille wurde nur einige Male von Schüssen zerrissen. Erst dachte ich, es sei Einbildung, aber als ich bewußt hinhörte, stellte ich fest, daß da tatsächlich irgendwelche Idioten rumballern. Die waren nicht weit weg. Das warf die Frage auf, wer um diese Uhrzeit hier noch rumballert. Der müßte doch mit den Landessitten vertraut sein und erstrecht wissen, daß die Leute hier jetzt schlafen wollen. Noch einige Male knallte es. Einzelne Schüsse, dann Garben, wieder einzelne Schüsse. Hoffe nur, daß die nicht sinnlos in die Luft ballern. Das Zeug kommt bekanntlich wieder runter...